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Kultur: Der Stoff, aus dem Familien sind

FORUM UND PANORAMA Die Gegenwart und ihre Generationen: Von der Sehnsucht nach Zusammenhalt

Wir schreiben das Jahr 2007. Das Haus liegt am Waldrand, es ist Nacht, die Fenster sind erleuchtet. Menschen in Zimmern: jeder für sich, am Tisch, auf dem Sofa, im Bett. Die Oma hat Krebs, die Mutter will wegziehen, die Tochter ist kurz davor, sich von ihrem Mann zu trennen. Tagsüber spielen die Kinder im Garten. „Ferien“ von Thomas Arslan (im Panorama): eine Familienstudie über vier Generationen. Architektur der Beziehungen. Grammatik der Nähe und der Distanz. Chronik einer Zersetzung.

Seit das Kino mehr ist als ein Jahrmarktvergnügen, speist es sich auch aus diesem voyeuristischen Moment: dass der Zuschauer aus der Dunkelheit in helle Fenster hineinblickt und teilnimmt am Privatleben der anderen. Wenn sich neben Arslans stillem „Ferien“-Drama auch zahlreiche Forums-Beiträge des Familienstoffs annehmen, ist das zunächst nichts Besonderes. Väter und Söhne, überforderte Mütter, vernachlässigte Kinder, Identitätssuche und Isolation – all das gibt’s immer auf Filmfestivals. Aber die jüngeren Regisseure verdichten den Familienstoff zu Bildern von emblematischer Intensität: Da brennt etwas unter den Nägeln.

Das Leben im 21. Jahrhundert, wie es Forums-Filme aus Deutschland und Amerika, China, Japan oder London schildern, ist eine Zerreißprobe. Nie war beides so heftig: die Sehnsucht nach dem Zuhause und das Erleben von Unbehaustheit. Man kriegt es nicht hin miteinander und will es doch unbedingt.

Familie, das ist eine Gruppe von Menschen um einen Tisch voller dampfender Schalen: Man isst, plaudert und erinnert sich. Die japanische Schauspielerin Kaori Momoi nimmt in ihrem schrill-fantastischen Debüt „Faces of a Fig Tree“ gleichsam den Blickwinkel der Reisschale ein. Alles so schön bunt hier: Kleinfamilie ist Pop und Provisorium auf Tatami-Matten. Als der Vater stirbt, gibt’s Mutters leckere Kroketten. Aber als ihr neuer Mann sich an den Esstisch hockt, ist es nicht dasselbe, teilt er doch die Erinnerung nicht. Ein fantastischer Versuch über die Einsamkeit mitten im Trubel.

Familie ist Maskerade, ein verabredetes, verstörendes Rollenspiel. Noch ein eigensinniges Debüt: Daddy schenkt Sohnemann ein Elvis-Kostüm, aber der schwärmt für Jimi Hendrix. Junge, tanz mit mir, oder ich mach dich fertig: In „Elvis Pelvis“ skizziert der nigerianisch-britische Filmemacher Kevin Aduaka das zärtlich-coole Zerrbild einer Mannwerdung, mit Türspion-Blicken und schrägen Perspektiven auf DigiBeta, halben Gesichtern, Körperfragmenten, biografischen Splittern. Die Erzählung ist zweigeteilt, erst schwarzweiß, dann in Farbe: die gewaltdurchsetzte Kindheit und später der junge Erwachsene, der an einen Ersatzvater gerät und sich immer noch mit den aufgezwungenen Idolen herumschlägt. Zwar sterben die Väter, aber die Söhne bleiben in deren Universum gefangen.

Familie ist Blutsverwandtschaft, eine biblisch-archaische Fehde. Jeff Nichols stellt in „Shotgun Stories“ einen Halbbruderkrieg in die majestätische Kulisse der Baumwollfelder und Fischteiche von Arkansas. Lodernder Hass und Sonnenuntergänge in Cinemascope: Die Gewalt entsteht im Affekt, als Übersprungshandlung, wenn die wortkarge Kommunikation vollends versagt. Die Männer bersten vor Energie und sind doch längst verschlissen. Blutjunge, uralte Kerle, die zögern, selber Familien zu gründen und sesshaft zu werden. „Ich habe keinen Truck. Ich habe kein Haus. Bis ans Ende des Lebens ist eine verdammt lange Zeit für nur zwei Leute“, sagt einer. Und doch stoppen sie das Morden aus Rache, den eigenen Kindern zuliebe. Mitten im Teufelskreis der familiären Gewalt insistiert „Shotgun Stories“ auf der Freiheit des Willens.

Familie ist Politik, Einfamilienpolitik in China. Mädchen waren da meist unerwünscht. „Mona Lisa“ von Li Ying: Ob die Mutter ihre Stieftochter entführt oder vielmehr fürsorglich aufgelesen hat, wird der Zuschauer nie erfahren. Sie wurde verurteilt, die Familie wird geächtet. Dennoch macht sich die Stieftochter auf den weiten Weg aus der Provinz zum städtischen Gefängnis, Bürokratie-Odyssee inklusive. Denn die Oma liegt im Sterben und will die Inhaftierte noch einmal sehen. In Begleitung mehrer Polizisten darf die Mutter für wenige Stunden nach Hause, die Fahrt dauert Tage und Nächte. Scham und Schande, Bürde und Würde der Frauen: Auf dem Land führt die Familie eine bitterarme Existenz, und dennoch gerät die kurze Heimkehr der Mutter zur Versöhnungsfeier: ein tränenreiches, verzweifeltes Fest.

Im Abspann von „Mona Lisa“ erfährt man, dass alle Personen sich selbst gespielt haben. Es zerreißt einem schier das Herz. Vor dieser Wirklichkeit nehmen sich europäische Familienangelegenheiten wie Luxusprobleme aus. Sei es Ann-Kristin Reyels uckermärkisches Wintermärchen „Jagdhunde“ mit Constantin von Jascheroff und Josef Hader im Zentrum der Patchworkfamilien-Tragikomödie: auch das ein stilsicheres Debüt mit groteskem Showdown am Heiligen Abend und bizarr erstarrten Gefühlen vor der Kulisse einer gefrorenen Seelen- und Seenlandschaft. Sei es der sommerliche „Nachmittag“ in der Potsdamer Villa mit Seegrundstück, in Angela Schanelecs freier Adaption von Tschechows „Möwe“: eine ähnlich wie Arslans „Ferien“ nach den Regeln der sogenannten Berliner Schule stilisierte Familienstudie, voller Haarrisse im verwandtschaftlichen Gefüge. Oder sei es Nanouk Leopolds niederländischer Forums-Beitrag „Wolfsbergen“, der die Entfremdung im Kreise der Lieben ebenfalls in streng komponierte Bilder übersetzt. Wieder sind es vier Generationen, sind es Menschen in Zimmern und Möbeln. Alles scheint in Ordnung, bloß dass die Mutter einen tagelangen Erschöpfungsschlaf schläft, die Tochter ein Glas zerbeißt, der Mann fremdgeht und die Großmutter die Tür vor Großvater abschließt. Die Kamera wahrt Distanz zu den wohlsituierten, reglosen Existenzen, hält sich im Flur auf oder im Nebenraum. Bis der Urgroßvater sein Sterben ankündigt und die Kinder, Enkel und Urenkel sich im Elternhaus am Waldrand versammeln.

Wie sich die Bilder gleichen. Immer wieder der Wald, der still steht und schweiget, als sei’s eine Fototapete. Diese verdammte Gleichgültigkeit der Natur angesichts von so viel condition humaine. Das Rauschen des Windes in den Bäumen (akustisches Markenzeichen der Berliner Schule von Arslan bis Petzold): ein Hohn. Immer wieder unterbrechen Schwarzblenden den Bilderfluss, als Störmanöver der Generationenfolge. Immer wieder wäscht man einander, die Kinder, die Kranken, die Toten: liturgisches Ritual versuchter Nähe. Und immer wieder krümmen sich ausgewachsene Menschen in Embryohaltung zusammen, als wollten sie nicht geboren sein.

„Mama“, fragt die Tochter, „kannst du bitte damit aufhören?“ – „Womit denn?“ – „Du sollst aufhören, Kinder zu machen.“ Aber Rita (Sandra Hüller), fünffache Mutter und selbst ungeliebtes Kind, hört nicht auf. In Maria Speths Frauenporträt „Madonnen“, der einzigen unter den europäischen Familienstories, in der es auch soziale Probleme gibt, angelt sie sich einen schwarzen GI, holt die Kinder von der gefühlskalten Oma (Susanne Lothar) zurück und spielt Familie auf ein paar Quadratmetern Wohnung. „Mama“, sagt die Tochter später, „kann ich bei dir bleiben?“ Die Sturheit der Kinder: Am Ende ist Familie eine allen widrigen Umständen abgetrotzte Unmöglichkeit.

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