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Kultur: Der Süden. Die Sonne. Das Meer.

Jetzt wird es Frühling, im Kino zumindest – mit Emanuele Crialeses herzerwärmendem „Lampedusa“

Wenn der Winter lang und grau und schmutzig war, dann ist es Zeit für solche Filme. Der Mensch will Sonne sehen. Und Meer. Viel Meer. Und Leute, die unter dieser Sonne leben und an diesem Meer. Braungebrannte Fischer zum Beispiel unter blauem Himmel. Oder schöne Frauen auch, die an einsamen Stränden halbnackig „toter Mann“ spielen: rücklings im Salzwasser liegen und mit den Wellen schaukeln. Oder spielen sie „tote Frau“?

Grazia (Valeria Golino) ist so eine. Die immer noch sehr junge Mutter von drei halbwegs halbwüchsigen Kindern geht gern schwimmen an den einsamen Stränden von Lampedusa. Lampedusa? Lampedusa ist der südlichste Punkt Europas, eine winzige italienische Insel auf dem Dreiviertelweg nach Afrika. Und „Lampedusa“ ist der zweite Spielfilm des 37-jährigen Emanuele Crialese – zumindest heißt der Film so in Deutschland, wo er wohl auch ein bisschen Werbung für den lampedusischen Tourismus machen soll. Im Original tönt das origineller: „Respiro“ – „Atem“, oder auch: „Ich atme“.

Grazia atmet Freiheit, mitten in der kleinen Dorfgesellschaft von Lampedusa. Doch um Freiheit zu atmen in dieser fraglos freundlichen Menschen-Enge, muss man ein bisschen neben der Kappe sein. Also ist Grazia liebenswert, aber unberechenbar, mal himmelhoch jauchzend, mal ganz plötzlich zu Tode erzürnt. Irgendwie hält sie nichts: nicht ihr Job in der Fischfabrik mit den eigentlich netten Nachbarinnen, nicht die Kinder, nicht ihr durchaus erstaunlicher Anti-Macho von Mann. Irgendwie taumelt sie, und irgendwie wollen die Lampedusaner sie eines Tages fallen sehen – und los haben in eine Klinik auf dem Festland, droben in den Städten des Nordens, wo die Leute frieren und deshalb so gerne ins Kino gehen.

Nur so viel: Dazu kommt es nicht. Wie sie eines Tages zur „Madonna del Mare“ wird (und die Lampedusaner haben tatsächlich einst eine echte Madonnenstatue im Meer versenkt), das soll hier nicht erzählt werden. Auch Emanuele Crialese hätte das vielleicht besser nicht erzählt, nicht so breit jedenfalls und irgendwann auch sehr breit musikalisch (Tonmaler: John Surman). Überhaupt ist an diesem Film das Schönste gar nicht die Geschichte, die sich, wie das so der Geschichten Art ist, auf ein griffiges – und sei es ein noch so unbegreifliches – Ende hin verdichtet. Sondern der Himmel. Die Farben. Das Meer. Die Wärme auch, die etwa von Menschen ausgeht, die zu dritt oder zu viert auf der uralten Vespa durchs Dorf knattern, oder sogar die Wärme, die die örtlichen Jugendbanden trotz allem vereint – das Ruppige der Mutproben, das Raue der Vogeljagden mit der Schleuder und der Vogelbratereien nach getaner Jagd auf den Felsen hoch überm Meer.

Vor allem in diesem Folkloristisch-Atmosphärisch-Ethnografischen, in einem zart überständig neorealistischen Blick auch hat „Lampedusa“ seine starken Momente, in nichts als jenem durchdringend außerzeitlichen Gefühl einer Insel am Ende der Welt. Mehr als das hätte es bei genauerem Hinträumen gar nicht gebraucht. Auf nach Lampedusa also und meinetwegen hinuntergetaucht zur Madonna del Mare! Und abends ins Freilichtkino und auf den Mond gucken, der aufgeht hinter der Leinwand, nur auf den Mond gucken, wie er vorbeiwandert an allen Geschichten dieser Welt, ja, das wär was.

Delphi, FT Friedrichshain, Neues Off

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