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Kultur: Der Tiger der Normalität

Fragt man nach Assoziationen zum 9.November, bekommt man erwartungsgemäß zur Antwort: "Maueröffnung".

Fragt man nach Assoziationen zum 9.November, bekommt man erwartungsgemäß zur Antwort: "Maueröffnung".Am 9.November 1989 standen die West-Berliner an den Grenzübergängen und trommelten den Ost-Berlinern auf die Trabbidächer.Schon am nächsten Tag sagte der Tagesspiegel in einem Extrablatt voraus: "Berlin wird diese Nacht nicht vergessen." Damit recht zu behalten, war nicht schwer.Und obwohl, oder gerade weil wir uns noch gut erinnern, werden wir uns 1999 zum Zehnjährigen alles noch einmal erzählen.Ganz ausführlich und ohne Überdruß.So oft haben wir die selbsterlebte Geschichte ja noch nicht gehört.

Mit dem 9.November 1938 ist das anders.Diese Geschichte haben wir schon sehr oft gehört.So oft, daß sich inzwischen nicht nur naßforsche Jungkonservative, sondern auch weißhaarige Dichter genervt zeigen.Dennoch sei die Geschichte ein weiteres mal erzählt, mehrstimmig.Tagebucheintragung von Walter Tausk, Handelsvertreter, Breslau: "Montag, den 7.11.1938, geht der polnische - aber staatenlose - siebzehnjährige jüdische Junge Grynspan, der in Paris lebt, auf die deutsche Botschaft, verlangt einen der Legationsräte zu sprechen, egal welchen, wird zu dem diensttuenden Legationsrat von Rath (...) geführt, hat mit ihm angeblich einen kurzen Wortwechsel und schießt den betreffenden Herrn an: Steckschuß in die linke Schultergegend und Schuß in die Milz." Tagebucheintragung Thomas Mann, Schriftsteller, Princeton: "Klar und heiter.8 Uhr auf.Kaffee.Ausschweifende, organisierte Juden-Progrome in Deutschland und Österreich im Anschluß an die Tötung des Gesandtschaftsmitgliedes in Paris.- Zu arbeiten versucht, fast erfolglos.Außerordentlich matt." Tagebucheintragung Victor Klemperer, Romanist, Dresden: "Unglück.Erst Krankheit, dann der Autounfall, dann, im Anschluß an die Pariser Grünspan-Schießaffäre, die Verfolgung, seitdem das Ringen um Auswanderung."

Der 9.November 1938, den wir als Jahrestag begehen, war schon einer.Auf den Tag genau zwanzig Jahre früher hatten der Sozialdemokrat Scheidemann und der Kommunist Liebknecht in konkurrierender Parallelaktion die Republik ausgerufen.Die Pogrome am 9.November 1938 sollten in einer Art Mitnahme-Effekt der Gewalt auch die Erinnerung an die zwittergeborene Weimarer Republik überschreien.Jener Republik, gegen die Hitler bereits 1923 geputscht hatte.Wiederum am 9.November.

Manchmal funktionieren historische Ereignisse wie Deckerinnerungen.Hitler hatte seinen Putsch bewußt auf den 9.November gelegt.Das Pariser Attentat wiederum lieferte den willkommenen Anlaß für die "Reichskristallnacht".Im Unterschied dazu war die Maueröffnung einfach passiert.Als glückliches Mißverständnis auf Weltniveau.Das Datum spielte keine Rolle.Dennoch wird der 9.November 1989 zukünftig in einen Erinnerungswettstreit mit dem 9.November 1938 treten - und ihn gewinnen.

Denn das, was gemeinhin "Gedenken" genannt wird, verändert sich mit der zeitlichen Entfernung der Gedenkenden vom Geschehenen.Im Nähefeld des kollektiven Gedächtnisses von morgen wird das Selbsterlebte dominieren: Mauerfall, Abzug der Alliierten, Regierungsumzug.Und spätestens, wenn die letzten Augenzeugen und danach die Ohrenzeugen der Augenzeugen gestorben sind, wird sich das Erinnern an den Holocaust mit einem historischen und moralischen Sicherheitsabstand zum Erinnerten abspielen."Abspielen" ist genau das Wort, um diesen Vorgang zu bezeichnen, mit dem künftig am Spielplan der Jahrestage entlang die Tragödie der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden auf die medialen Drehbühnen gebracht, mehr oder weniger ausführlich beleuchtet und dann wieder aus dem Blickfeld gerückt werden wird.Das "Erinnern" verwandelt sich in Histotainment.

Passend dazu wünscht sich Bundeskanzler Schröder eine Holocaust-Gedenkstätte, zu der die Deutschen "gerne hingehen".Helmut Kohl hatte seinerzeit das Gaus-Wort von der "Gnade der späten Geburt" nachgesprochen und muß sich dafür bis heute schelten lassen.Die politische Folge-Generation hingegen braucht nicht mehr gar so betrübt aus der Trauerwäsche zu schauen, wenn an Gedenk- und Jahrestagen das "Erinnern" vom Blatt gelesen wird.

Gemessen an dieser neuen Unbekümmertheit ganz oben ist Martin Walsers Rhetorik des Abschüttelns rührend altbacken.Diese Rhetorik bewegt sich gewissermaßen noch hinter Gittern.Die Begriffe "Scham", "Schande" und "Schuld" sind die Stäbe, an denen "vor Kühnheit zitternd" gerüttelt wird.Der Tiger der Normalität, den Walser befreien und reiten will, spaziert aber schon längst draußen herum.Für die jüngeren Generationen können "Scham", "Schande" und "Schuld" keine Bewältigungskategorien mehr sein.

Ohnehin wäre es für die letzten noch lebenden Opfer viel praktischer, wenn weniger von der "Erbschaft der Schuld" und mehr von der "Erbschaft der Schulden" die Rede wäre.Beispielsweise in der Entschädigungsfrage, die erst jetzt, kurz vor dem Aussterben der Opfergeneration, noch einmal auf die Tagesordnung geraten ist.Von der "Last der Vergangenheit" läßt sich leicht reden.Aber wieviel wog das aus den Zähnen der ermordeten Juden gebrochene Gold? Und welche Firmen verdienten daran? Und was bedeutet es, wenn der neue Kanzler in seinem ersten großen Fernsehgespräch erklärt, daß er seiner Fürsorgepflicht für die "deutsche Industrie" nachzukommen "gedenke", wenn geldgierige amerikanische Anwälte "übertriebene" Forderungen stellten?

Fragen wie diese hat die riesige Zunge, als die der niederländische Publizist Ian Buruma das deutsche Gedächtnis charakterisiert hat, nie wirklich beantwortet.Trotz des mehr und mehr anschwellenden Stroms der Beredsamkeit, dessen verborgene Quelle das "kollektive Beschweigen" der deutschen Schuld während der Wiederaufbaujahre gewesen ist.Ob die Jüngeren und Jungen gegen diesen Strom schwimmen können, davon hängt die Zukunft der Erinnerung ab, nicht vom Festhalten an einem Gedenk-Repertoire, das von fortschreitender Verfloskelung geschlagen ist.

Zwei Generationen nach dem Holocaust befinden wir uns mit dieser Epoche der deutschen Vergangenheit in einer geschichtlichen Schleuse.Die Zeugen verstummen allmählich, und der Chor der Historiker übernimmt das Erzählen; Geschichten verwandeln sich in Geschichte; Erinnerung wird nicht mehr von Personen verkörpert, sondern von Institutionen verwaltet.Die Zeitgeschichte wird zur Historie.In dieser Phase der Historisierung des Holocaust werden die alten Bewältigungsdramen ein letztes Mal nachgespielt.Noch einmal folgen Erschütterung plus Debatte den überlieferten Mustern.Etwa bei der Verstörung durch den Film "Schindlers Liste", eine Wiederholung des Mitleidschocks, den die Holocaust-Serie in den 70er Jahren ausgelöst hatte; oder bei der Goldhagen-Debatte, die Argumentationswege des Historikerstreits aus den 80ern nachschritt und gleichzeitig unfreiwillig die Kollektivschulddiskussion der 50er parodierte; oder beim Skandal um das "Fassbinder-Stück", der eine Doublette des Frankfurter Schauspielhaus-Konflikts von 1985 war.Wird also in Zukunft das sogenannte Bewältigen der Vergangenheit von der Bewältigung der Bewältigung verdrängt? Oder besteht die Chance, daß die Vergangenheitsbewältigung ihrerseits auf eine Weise historisch wird, die das Begehen der Jahrestage sowohl von zeremoniellen Verkrustungen als auch vom Sexappeal der Wohlfühlschuld befreit und dem Gedenken das Denken zurückgibt? Die Zunge, die diese Fragen beantworten wird, gehört der kommenden Generation.

BRUNO PREISENDÖRFER

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