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Kultur: Der Tod ist eine Baustelle

Nichts für schwache Nerven: „Potsdamer Platz“, der Thriller des Wahlberliners Buddy Giovinazzo ist eine düstere Orgie der Gewalt

Dem Mann stockt der Atem. Als er vor einer Baustelle steht, groß wie zehn Straßenblocks in New York City, darüber ein stählernes Spinnennetz aus Kränen, darunter ein von riesigen Kratern aufgerissener Boden, da fühlt sich Tony, der Amerikaner, „wie ein kleiner Junge bei der Bescherung“. Ein Gedanke schießt ihm durch den Kopf: „Hier mussten gut eine Milliarde jungfräulicher Dollar darauf warten, endlich genommen zu werden.“

Buddy Giovinazzo steht völlig unbeeindruckt am Potsdamer Platz und sieht überhaupt nicht aus wie ein kleiner Junge bei der Bescherung. Er ist schlecht rasiert, und hinter seiner strengen Brille blinzeln unausgeschlafene Augen. Der Amerikaner kommt direkt vom Flughafen, er hat in Köln gerade einen „Tatort“ abgedreht (Ausstrahlung am 19.10). Dem Potsdamer Platz in seiner jetzt fertigen Form kann er nichts abgewinnen: „Langweilig und steril.“ Und dennoch hat er sein aktuelles Buch, das soeben erschienen ist, nach dem Ort benannt. Wie der Protagonist von „Potsdamer Platz“, Tony, stand Buddy Giovinazzo einmal vor der Großbaustelle und dachte an all das Geld, das sich hier in Stahl und Beton verwandelte. Auch ihm schoss ein Gedanke durch den Kopf: „Ein Idealer Ort für organisiertes Verbrechen.“

Wanderer von Ost-Berlin

Weil er aber kein Gangster ist, sondern Filmemacher und Schriftsteller, erfand Giovinazzo den Protagonisten Tony, einen Totmacher. „Potsdamer Platz“ ist der bisher düsterste Roman des in Berlin lebenden New Yorkers. Sein literarisches Personal besteht aus Experten für so ziemlich alle denkbaren Verbrechen: Bilanzfälscher, Knochenbrecher, Schmerzspezialisten, Zuhälter, Profikiller, Drogendealer, Päderasten. Ein türkischer Geschäftsmann hat die Albtraumtruppe aus New Jersey nach Berlin bestellt. Die Russenmafia stört die Interessen der in Sachen Kriminalität eher unerfahrenen Türken, und so heuern sie echte Profis an. Tony und seine Männer machen ihren blutigen Job. Doch dann beginnen die Dinge, aus dem Ruder zu laufen. Menschen verschwinden, tauchen grausam verstümmelt wieder auf, in Berlin droht die Mafia an sich selbst zu scheitern.

Buddy Giovinazzo kennt die Mafia aus eigener Anschauung. Als Enkel italienischer Einwanderer wurde er 1960 in New York geboren und wuchs in der Lower East Side auf. Sein Vater war Musiker und spielte oft auf italienischen Familienfesten. „Da lernt man einige Dinge – zum Beispiel wem man besser keinen Gefallen schuldig bleibt“, sagt Giovinazzo. Und auch andere Dinge sah er in den Slums von New York. Einmal zum Beispiel ging ein Mann ruhig an ihm vorbei, der seine Hand gegen die Schläfe presste, aus der Blut sickerte. Als er die Hand kurz wegnahm, um sich die Nase abzuwischen, spritze es rot aus seinem Kopf. Er ging aber ruhig weiter und niemand nahm weiter Notiz davon. „Vielleicht hatte man ihn angeschossen, aber für die Passanten war er einfach Luft. Das war völlig normal damals.“

Woher rührt seine Faszination an den Abgründen? „Reiche Leute haben mich nie interessiert“, sagt er. Es waren schon immer die Randgruppen, denen das Interesse des studierten Musikers aus der Upper Middleclass galt. Das Filmemachen hat sich der Schlagzeuger selbst beigebracht. Sein erster Spielfilm „Combat Shock“, ist eine Low-Budget-Produktion, die das beunruhigende Portrait eines Vietnam- Veteranen zeichnet, der nach seiner Heimkehr an der Gewalterfahrung des Krieges zerbricht und zu einer Art modernem Zombie mutiert. Der Film erinnert an die abgründige Erzähltechnik David Lynchs und genießt bei Filmfreaks noch heute regelrechten internationalen Kultstatus, obwohl Giovinazzo später Filme mit viel mehr Geld und Stars drehte – „No Way Home“ (1996) mit James Russo und „The Unscarred“ (1999) mit Ornella Muti und Heino Ferch, sowie schließlich auch eine Polizeiruf-Folge („Tiefe Wunden“).

Nach Berlin verschlug es den 43-Jährigen dann 1995. Auf einer Werbetour für einen Film traf er Frank Nowatzki vom Berliner Maas Verlag, der ihn zum Bleiben überredete. „Als ich nach Ostberlin kam, sahen die Straßen aus wie die Lower East Side – nur ohne die Kriminalität.“ Fortan erkundete Giovinazzo Gegenden, in die sich kaum ein deutscher Neu-Berliner je verirrt: Außenbezirke, Sozialsiedlungen, unscheinbare Plätze. Er beobachtete Zigarettenschmuggler und Jugendgangs und hielt diese Eindrücke in einem Tagebuch fest. Daraus entstand schließlich das fiktionale Geflecht von „Potsdamer Platz“.

In den USA wird man dieses Buch vorerst nicht lesen können. Obwohl der Autor längst kein Unbekannter mehr ist, zwei seiner Romane in den USA erschienen sind, darunter „Crack Town“ (1996), der demnächst von ihm selbst verfilmt wird, war dieses Buch für den amerikanischen Markt „zu heiß“. Eine Story, in der Amerikaner ihre internationalen Geschäftsinteressen rücksichtslos, ohne Interesse an der fremden Kultur und mit Gewalt durchsetzen, gelte spätestens seit dem Irak-Krieg als nicht mehr opportun.

Und genau davon erzählt „Potsdamer Platz“. Was dieses Buch trotz seiner teils schwer erträglichen Brutalität so bemerkenswert macht, sind sein schwarzer Humor und die unprätentiöse Sprache. Anders als mancher deutsche Berlinroman hält sich Giovinazzo nicht mit Moden und Oberflächlichkeiten auf. Ihm geht es gleichermaßen um die große Geschichte wie um die kleinen Eigentümlichkeiten – auch wenn dabei bisweilen harte Klischees entstehen. Beim Anblick der geschlossenen Läden und Schlaglöcher bemerkt er über den Bezirk Köpenick trocken: „Er lag südöstlich von Marzahn und sah aus wie Beirut an einem trüben Tag.“ In schnell geschnittenen Rückblenden entsteht ganz nebenbei das einfühlsame Psychogramm eines Täters, der selbst Zeit seines Lebens Opfer von alltäglicher Gewalt war.

Tragödie im Rinnstein

In seinem ersten Roman „Broken Street“ fragte er einmal rhetorisch nach dem Stellenwert dieser Gewalt: „Fühlt man sich besser, wenn man an einem Autounfall vorbeikommt und ein armes Schwein mit eingedrücktem Brustkorb am Rinnstein liegen sieht?“ Natürlich nicht. „Dennoch sieht man hin. Man kann nicht anders.“ Genauso geht es dem Leser mit seinen Büchern: Man fühlt sich nicht besser, aber man muss immer weiterlesen. Vielleicht sind es diese Untiefen unter der coolen, harten Oberfläche des „Pulp“, die dafür sorgen, dass man Buddy Giovinazzos Romane bis zu ihrem bitteren Ende nicht mehr aus der Hand legen kann.

Buddy Giovinazzo: Potsdamer Platz. Übersetzt von Ango Laina und Angelika Müller. Maas Verlag, Berlin 2003 (Pulp Fiction Bd. 14). 411 Seiten, 13,80 €. – Buchvorstellung am Montag, 11. August, im Kaffee Burger, Torstraße 60 (Mitte), 21 Uhr. Weitere Informationen unter: www.pulpmaster.de .

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