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Kultur: Der tollste Tango

Licht, Luft und Liebe: eine Begegnung mit der Berliner Schriftstellerin Antje Rávic Strubel

Man muss vorsichtig sein mit Menschen, die das Wort „Wahrheit“ nicht aussprechen können, ohne in Lachen auszubrechen. Die dann auch noch so lachen, als handle es sich um etwas völlig Surreales. Als sei Wahrheit ein Wort wie „Papst“, hinter dem etwas so Undenkbares steckt wie ein Mensch mit Unfehlbarkeitsanspruch. Als Antje Rávic Strubel also aus ihrem Mund das Wort „Wahrheit“ fallen hört, lacht sie unvermittelt, ironisch, mit einer tief sitzenden Skepsis. Leute, die so lachen, misstrauen sich selbst, sie misstrauen der Sprache, sie misstrauen den Möglichkeiten, sie misstrauen den Tatsachen, ja am Ende noch der Tatsache, dass es Tatsachen gibt.

Unleugbar ist Folgendes: Antje Rávic Strubel ist unter Verdacht. Preisverdächtig, weil nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse mit ihrem fünften Roman „Kältere Schichten der Luft“. Darin trifft Anja, die einen Sommer in einem schwedischen Kanucamp arbeitet, auf eine andere Frau, und die entdeckt in Anja einen Jungen, und zwar so beharrlich, bis diese selbst in sich diesen Jungen spürt.

Unleugbar sitzt Antje Rávic Strubel ganz in Schwarz im Halbdunkel des Lindencafés in Potsdam, und ihr Blick fokussiert eine Apfelsaftschorle. Wären wir in einem ihrer Bücher, müsste die Schorle in dem Moment, in dem Rávic Strubel sie ansieht, etwas seltsam Neues, Unerwartetes werden.

Vermutlich wäre es – auch sprachlich – nie so weit gekommen, wenn es 1989 die Wende nicht gegeben hätte, als Erfahrung einer ersten, existenziellen Verunsicherung. Da begann sich für das Mädchen Antje, ein Widder aus Potsdam, wohnhaft in Ludwigsfelde, alles zu drehen. „Lehrer sagten plötzlich von einem Tag auf den anderen das Gegenteil“, die Welt war dabei, sich selbst umzudeuten. Irgendjemand hatte das Licht verändert, und plötzlich schien, obwohl sich ja nichts geändert hatte, zumindest nicht an der eigenen Vergangenheit, eben jene völlig neu. Sie war plötzlich anders, in diesem neuen Licht. Vielleicht musste man also nicht die Dinge, sondern das Licht beschreiben.

Strubel ging nach New York, wo sie an einem Theater als Beleuchterin arbeitete. Sie recherchierte für ihren ersten Roman, der hieß „Offene Blende“ und handelte von der Liebe einer Frau zu einer Fotografin. Fünf Bücher später beginnt „Kältere Schichten der Luft“ mit dem Satz: „Vom Licht wussten sie alles.“

Mehr als die Tatsachen interessiert die Autorin das Licht, in dem sie erscheinen. Denn Tatsachen ändern sich mit dem Licht, das auf sie fällt. Und sind nicht am Ende die Möglichkeiten interessanter als Tatsachen? „Ja, das könnte sein“, sagt sie. Es geht darum, die Möglichkeiten möglichst lange offenzuhalten. „Wie aber schreibt man mit offenen Möglichkeiten, ohne beliebig zu sein?“

Es ist ihre Methode, der Beliebigkeit Genauigkeit entgegenzusetzen: Sie guckt auf die hervortretenden Knöchel, wenn eine Hand zugreift. Sie beschreibt die Modulation der Gefühle, um ein Zittern der Wahrnehmung zu zeigen.

Manchmal ist das anstrengend zu lesen. Strubel hat jede Menge Spiegel aufgestellt in ihrer Geschichte, darin sieht man die Protagonisten und diese sich selbst, darin sieht man die Autorin, die sich selber beim Schreiben sieht. Strubel kann nicht mehr anders. „Ich würde gerne einfach mal eine Geschichte erzählen, die von A nach B führt.“ Die Autorin wirkt wie eine, die alle Möglichkeiten noch mal durchspielt, wenn das Spiel gelaufen ist. Wie hätte es auch noch sein können?

„Ich habe oft das Gefühl, in dem Moment, in dem man etwas äußert, zerfällt es schon wieder.“ Worte, kaum gesprochen, stehen schon in Frage. Sind Objekt einer Prüfung. Relativieren sich. Was ist da die Wahrheit?

Da ist das namenlose Mädchen, das später Siri genannt wird, und in der Gore-Tex-Umgebung des Kanucamps in irrationalen Sommerkleidern auftaucht und im Gegenlicht steht. Seine Vergangenheit bleibt im Dunkel, genauso wie die Herkunft des Fußballs, auf den jemand eines Tages „no gays“ geschrieben hat. Die Ressentiments der anderen treffen auf die Paranoia von Anja, Gewalt scheint eine Lösung.

Die Menschen aus dem Team im Kanucamp haben sich ihrer Vergangenheiten entledigt, wenigstens für einen Sommer. Die Vergangenheit der Protagonisten war bitter oder schnöde. Nichts, das man fortsetzen sollte. Also versuchen sie, neu anzufangen. Und alle wissen, dass sie nur so tun. „Du bist gekommen, weil du das Unvorhersehbare suchst. Weil du die Wiederholungen satthast“, sagt Siri zu Anja. Und dann: „Die Inhalte wiederholen sich sowieso.“ Bleibt noch die Form.

Antje Rávic Strubel erinnert einerseits manchmal an einen gequälten Abiturienten, der sich vor der Wahl eine Studienfaches fürchtet – weil er mit jeder Entscheidung für ein Fach all die anderen Möglichkeiten ausschließt. Andererseits ist das Leben ja eine Wahl, und eine der größten Freuden liegt darin, Erwartungen zu enttäuschen. Das Erfreuliche ist, dass Schriftsteller Stipendien dafür bekommen, Erwartungen zu enttäuschen. Strubel schafft das gut, sie trifft ständig auch dort eine eigene Wahl, wo viele gar keine vermuten.

Der Name. Ist nicht nur eine Frage der Eltern. Antje Rávic Strubel hat sich ihren mittleren Namen „Rávic“ samt Akzent selbst verpasst, als sie fand, dass er zu ihrem Schreibstil passte.

Das Geschlecht. Ist nicht nur eine Frage der Biologie. Wer sagt denn, dass Frauen Männer lieben müssen?

Der Gehorsam. Ist nicht nur eine Frage des Geschlechts. Beim Tangotanzen hatte sie beide Rollen, aber zuletzt hat sie geführt. Auf ihrer Website posiert sie mit einer Maske.

Auch die Rollen im Buch sind nie vorhersehbar. Sie strickt ständige Unsicherheit wie einen Faden mit. Leicht aus dem Lot läuft der Leser an der Geschichte entlang. Hat Siri wirklich erlebt, was Anja sich vorstellt? Wen hat Ralf gesehen, als er eines Nachts ins Zelt einbrach und ihr an die Wäsche ging? Der Kompass hat eine Nadel, die nach Norden zeigt. Aber sie zittert.

Strubel misstraut dem Pars pro Toto. Worauf verpflichtet eigentlich das Detail das Ganze? Was ist das für eine Art, auf die immer wieder an der gleichen Stelle einrastenden Muster im Kopf des Lesers zu bauen, der bei der Erwähnung von weißen Schnürsenkeln gleich einen ganzen Rechten sieht? Und wenn sich eine Frau ein gestreiftes Herrenhemd überzieht, ist sie dann ein Mann?

Es ist bei ihr nicht zulässig, dass der Leser sich eines Ganzen sicher wähnt, das tut ja nicht einmal die Autorin. „Ich sehe beim Schreiben nie die ganze Person. Ich sehe eine Hand, eine Geste.“ Strubels Bücher sind eine Beweisführung, dass man noch gar nichts weiß und sich auch darüber nicht sicher sein kann. „Was man für Klarheit hält, ist oft nur ein Klischee.“ Und in den Klischees liegt die Sicherheit des Lesers und manchmal auch die des Autors. „Sicherheiten sind oft trügerisch, deshalb meide ich sie.“

Im letzten Jahr ist Antje Rávic Strubel nach Potsdam gezogen, und deshalb kann man mit ihr jetzt in Babelsberg spazieren gehen. Nach diesen ganzen Unsicherheiten möchte man ja auch mal einen Fixpunkt haben, auf den man sich zubewegen kann! Rávic schlägt den Flatow-Turm vor. Sie mag Aussichten. Draufsichten. Die Nähe zum Wasser, den Wind. Und – um beim Licht zu bleiben – auch das leuchtet ein: Wetter ist zugleich konkret bis ins kleinste Detail und trotzdem jederzeit veränderlich, stufenlos regelbar, in unendlichen Variationen und Kombinationen. Alle Wetter sind möglich. Und sie bieten nur vorübergehende Sicherheit.

Natürlich sind Strubels Eltern, die Gewissheiten eigentlich immer gut fanden, nun doch stolz auf ihre 32-jährige Tochter. Auch wenn sie sich immer noch nicht vorstellen können, wie dieses freie Leben funktioniert, Tag für Tag.

Besser, es ruft keiner an, morgens, bevor sie mit dem Schreiben beginnt. Besser, sie liest noch keine Zeitung. Besser, die Welt bleibt noch eine Weile, wo sie ist, und sie selbst noch eine Weile mit ihren Gedanken allein. Besser, sie hat den Vormittag für sich, solange es geht mit der Konzentration auf die genaue Sprache, das kostbare Gut, bevor das reale Leben einbricht in die Fantasie. Dann raus, am Nachmittag Erledigungen.

„Offene Blende“, „Unter Schnee“, „Fremd Gehen. Ein Nachtstück“, „Tupolew 134“ und „Kältere Schichten der Luft“ sind so entstanden. In „Tupolew 134“ steht viel bis dahin Unerhörtes über die Lebenswirklichkeit in der DDR. Es wurde als ihr bislang stärkstes Stück gefeiert.

Antje Rávic Strubel hatte früh davon gehört, dass den Künstlern gelegentlich ihr Tun auf die angenehmste Art zu Kopf steigt. Es sollte für sie nichts Schöneres geben. „Ich habe den Rausch gesucht.“ Nur wenn der Rausch da ist, der Rausch des Schreibens, dessentwegen sie das alles macht, dann spielt das morgendliche Ritual keine Rolle mehr. Wenn der Rausch kommt, in der Anfangsphase eines Buches, wird Ort und Zeit des Schreibens unwichtig. Dann gibt es Konzentration und Auflösung gleichzeitig.

Zuletzt hat sie ihre Partnerin geführt beim Tango, dem Tanz derjenigen, die sich erst in letzter Sekunde für eine Möglichkeit, eine Schrittfolge, entscheiden. Auch das war Konzentration und Auflösung gleichzeitig, auf eine körperliche Art. Denn im Prinzip, wenn nur die Aufmerksamkeit, die Konzentration und die Spannkraft ausreichen, dann ist im Tango aus jeder Situation heraus jede Bewegung möglich. Das ist sensationell. Da unterscheidet sich Tango von anderen Tänzen, in denen es viel mehr wiederholte, geregelte Abläufe gibt, die man abtanzen muss. Antje Rávic Strubel kann das Abtanzen von Erwartungen nicht leiden. Das wäre, als müsste sie Klischees tanzen.

Tango dagegen tanzt man in einer Hochspannung, die sich aus der Allgegenwart der Möglichkeiten ergibt. Strubel mag die Erwartung des nächsten Schritts. Wenn das Offenhalten aller Möglichkeiten ständig nach einer Entscheidung verlangt. Sie genießt, wenn das Gegenüber zögert, etwas auskostet, eine Drehung verlangsamt, beschleunigt, bestimmt, fordert, antwortet, reizt und geizt. Es ist ein einziges Fragen, Überprüfen, Antworten, Auswählen, Kombinieren. Es ist wie Schreiben.

Die Intensität führt dazu, dass die Tänzer kaum Alkohol trinken und deshalb die Besitzer der Tangobars nie reich werden. Sie führt dazu, dass die Tänzer knallwach um fünf Uhr morgens ins Helle treten. Dann ist es Zeit, am Schreibtisch die Suche nach der unerwarteten Wendung fortzusetzen.

„Es wäre das Tollste, wenn man mitten im Tanz wechseln könnte“, sagt sie, „von derjenigen, die geführt wird, zur Führenden.“ Man könnte die Zwangsläufigkeiten verringern. Es würde die Aufmerksamkeit erhöhen.

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