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Kultur: Der Über-Maler

Mit 16 wollte er in den Krieg, und der prägt bis heute seine Arbeit. Besuch bei Bernhard Heisig, der findet: Geschichte ist nur ein anderes Wort für Wahnsinn.

Sein Vater war auch Maler. Dann ist er vom Malergerüst gefallen und starb. Bernhard Heisig schaut aus seinem Rollstuhl in das Picasso-Blau vorm Haus. Oder ein Heisig-Blau? Das Blau gehört dem Spätsommer über Strodehne. Strodehne ist ein winziger Fleck in Brandenburg. Städter haben für solche Orte meist ein Wort mit A vorn, und dann setzen sie noch ein „der Welt“ hinten dran. Aber schön ist es. Muss einen doch nicht jeder finden. Sie haben ihn trotzdem gefunden.

Im Sommer vor sechs Jahren fuhren Autos mit ausländischen Kennzeichen über die leeren Alleen nach Strodehne. Das waren die Leute von „Libération“, „Corriere della Serra“ und viele andere. Sie hatten gehört, Bernhard Heisig sollte nicht im Berliner Reichstag malen dürfen. Ostkünstler und Bürgerrechtler und Ralph Giordano waren dagegen. Sie hatten eine markige Erklärung geschrieben, da stand drin, dass Heisig erstens ein DDR-Staatsmaler war und schon deshalb nicht in den Reichstag könne. Und zweitens war er noch in der Waffen-SS, weshalb er erst recht nicht in den Reichstag könne.

Wäre mein Vater damals nicht vom Gerüst gefallen, das mit der Waffen-SS wäre nie passiert, sagt Heisig. Nächstes Jahr wird er 80. Er sieht aus wie ein alter Seemann, mit Kapitänsbart, die Haare nach hinten, wie zurückgeweht von einer ewigen Brise. Nur ohne Pfeife und ohne Meer. Aber Meer-Augen hat der letzte Überlebende der Leipziger Maler-Trinität, die die „FAZ“ Anfang der 70er Jahre entdeckt hatte. Das „Leipziger Kunstwunder“, befand sie. Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke sind in diesem Jahr gestorben; er hat für beide die Nachrufe geschrieben. In der „Bild“.

Aber im Augenblick ist er nicht fast 80, sondern wieder 16, als er sich vorstellt, wie sein Vater ihn verhauen hätte. Sich freiwillig an die Front melden! Mit der Malhand hätte er gehauen, mit der rechten. Aber von seiner Mutter ließ er sich nicht schlagen. Die weinte, da musste er durch, Mütter weinen immer. Und Mütter mit totem Mann erst recht. Deshalb musste er weg. Es war, fand er, höchste Zeit ein Held zu werden. Bei der Musterung sprach ein einarmiger SS-Mann mit ihm. Mit ihm persönlich. Und einarmig! Er wäre beinahe umgefallen vor Bewunderung. So wollte er auch werden. Mit 16 brauchte man noch das Einverständnis der Eltern, wenn man an die Front wollte. Das würde schwer werden mit der Mutter, er wusste es. Sie ließ auf der Straße kleine Päckchen fallen. Die waren für die armen Ostarbeiter. Breslau war eine Judenstadt, die berühmte Breslauer Textilindustrie war vor allem jüdisch, die Mutter hatte bei Juden gearbeitet, bis 1933. Sie ließ nichts auf die Juden kommen, weil man als anständige Frau nicht denen übel nachredet, die einen gut behandelt haben. Dem Sohn war das egal. Er empfand ein undeutliches Missbehagen, aber das würde sich schon alles regeln. Nach dem Endsieg auf jeden Fall. Er ging nur noch zum Schein durch die Straßen Breslaus. In Gedanken war er längst im Krieg.

Aber SS war unmöglich. Er musste es denen sagen. Wollen Sie nicht zu uns kommen?, hatte der SS-Offizier gefragt. Er sagte tatsächlich „Sie“, Bernhard Heisig kam sich ungeheuer erwachsen vor. Aber er blieb ganz fest: Das geht nicht. Ich will zu den Panzern! Der Offizier lächelte: Panzer haben wir auch. Sehr gute Panzer. Oder haben Sie etwas gegen uns? – Nein, wieso? Hatte er nicht. Und das Beste war: Für die SS brauchte er nicht einmal die Unterschrift der Eltern. Zum Abschied sagte er der Mutter, wenn er falle, sei sie schuld. Er habe ja nichts gedurft. Sagte es mit der ganzen Grausamkeit des Kindes, das kein Kind mehr sein will. Drei Jahre war er weg. Er kam zur 12. SS-Panzerdivision Hitlerjugend, an die Westfront. Er durchfuhr die ganze Ardennenschlacht. Wenn der Feind ihm den Panzer weggeschossen hatte, lief er zu Fuß weiter. Irgendwann war er wieder in Breslau. Denn Hitler hatte Heisigs Heimatstadt zur Festung erklärt, und er, Heisig, musste sie verteidigen. Er war nur noch eine Überlebensmaschine. Man braucht einen Maler nicht fragen, wie der Krieg war. Man muss nur seine Bilder sehen. Die Festung Breslau hat er immer wieder gemalt. Und auch dort, wo sie nicht drauf ist, ist sie doch drauf. Was soll er sagen? Dass er Remarques „Im Westen nichts Neues“ nie illustrieren könnte. Weil Remarque nicht im Krieg war, und weil man das merkt. An den Details. Heisig zählt auf, was alles nicht stimmt. Renns „Krieg“ hat er illustriert. Renn kannte den Krieg. Kino-Soldaten, die in Schützengräben diskutieren, machen ihn noch heute wahnsinnig.

Als alles vorbei war, war geschehen, womit er nie gerechnet hatte: Er lebte noch. Die Russen nahmen ihn gefangen; auf dem Marsch ins Lager ließ er kleine Zettel fallen, solche Mama-ich-lebe-Zettel. Er lebte wirklich, viel mehr als der Lungendurchschuss neben ihm und viele andere. Allerdings hatte das auch Nachteile. Die schwer Verwundeten würden bestimmt nicht zur Zwangsarbeit nach Russland müssen. Dann stand seine Mutter vor dem Lager, irgendwo dort, wo keine Zivilperson stehen durfte. Und er kletterte und sprang dorthin, wo kein Gefangener hinklettern durfte. Er sprang direkt in einen Eisenhaken. Der Eisenhaken bohrte sich in seine noch nicht verheilte Granatsplitter-Wunde am Bein. Aber er hatte seine Mutter gesehen. Er war auch nicht mehr der Meinung, dass sie schuld habe, wenn er tot wäre. Die Wunde entwickelte sich prächtig. Der russische Arzt wandte sich ab vor Grauen. Ein solches Bein hatte er ja nicht mal an der Front gesehen. Der Kriegsgefangene Heisig hatte es gut gepflegt, nachts wurde es schräg hochgebunden, damit es immer schlimmer wurde – extra für die jeden Tag erwartete Russenkommission, die die Arbeitsfähigen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion schickte. Bernhard Heisig lacht. In dieses Lachen passt die ganze Geschichte hinein. Der Lungendurchschuss, der kaum Luft kriegte, kam nach Russland. Heisig lacht noch mehr. Er aber wurde als Invalide entlassen. Es ist kein höhnisches Lachen. Es ist nur das Wissen darum, dass die entscheidenden Dinge im Leben reiner Zufall sind. Und dass Geschichte ein anderes Wort für den Wahnsinn ist, den man eigentlich nicht aushält. Der Mensch ist gar nicht gemacht für sein Leben. Für das Welttheater, in dem er nur Marionette ist. Heisig hat das Geschichtsbild des Barock. So malt er auch. So malte er immer. Wer das nicht sieht, versteht kein Heisig-Bild. Wenn die SED die Barockschicht in Heisigs Bildern bemerkte, wurde sie immer ein bisschen ärgerlich.

Er war nun wieder mit seiner Mutter zusammen. Sie machten nicht mehr den Versuch, in ihre alte Wohnung zu gehen. Sie war voller vertriebener Polen aus dem Osten. Am Anfang hatte Bernhard Heisigs Mutter noch manchmal gerufen „Aber das ist doch meins!“, wenn sie ihre Haushaltsgegenstände in fremden Händen sah. Dann schauten sie viele Paare Flüchtlingsaugen an und erklärten: Sie irren, Frau Heisig, Ihnen gehört hier nichts mehr!

Das Granatsplitter-Eisenhaken-Bein tat verdammt weh, sah aber jeden Tag weniger invalide aus. Das Breslauer Amt für Information nahm den jungen Deutschen. Er war vor seinen drei Kriegsjahren schon auf der Breslauer Kunstgewerbeschule gewesen. Im Amt für Information durfte er große rote Adler malen und polnische Hinweisschilder. Sie wiesen vor allem darauf hin, dass Breslau nicht mehr deutsch war. 15 polnische Maler und Dekorateure, ein Holländer und er arbeiteten auf dem Amt. Und alle sprachen Deutsch. Nur wegen ihm. Die Deutschen, das wusste er, hätten das nie getan. Zum ersten Mal fühlte er eine seltsame Irritation. Er war beschämt. Es gibt solche Momente, wo in einem selbst ein Schalter umgelegt wird. Es ist nicht wahr, dass die Anlässe groß sein müssen. Man setzt sich auf einen Stuhl, malt ein Plakat, und wenn man wieder aufsteht, ist irgendetwas anders. Auf dem polnischen Amt sah Bernhard Heisig auch zum ersten Mal die Fotos aus den Lagern. Dann fuhren sie über die Neiße, mit anderen Breslauern. Die meisten weinten. Er verstand nicht, warum das ein Grund für Tränen war. Die Endgültigkeit des Uferwechsels begriff er nicht. Sie strandeten in Zeitz. Ohne Geld, ohne Arbeit. Immerhin, so wie in Breslau die Polen die Macht hatten und überall Plakate aufhängten, so machte es in Zeitz die eben gegründete SED.

Er durfte Buchstaben kleben für die neue Macht, „Für Einheit und gerechten Frieden!“ Kann ich auch was dazu malen?, fragte er vor Langeweile. Er durfte. Nebenbei malte er Spitzwegmotive auf Kacheln. Man bewunderte ihn maßlos. Bis Max Schwimmer, der große Zeichner, Heisigs Illustrationen zu „Für Einheit und gerechten Frieden“ sah. Ob er, Heisig, nicht nach Leipzig kommen wolle, zum Studieren? Er wollte. Ein paar Jahre später war er schon Dozent an der Hochschule. Das war 1954. Bald leitete er das Grundstudium, danach eine Grafikklasse. Aber ein ungewöhnlicher Dozent war er schon. Er hatte keinen Studienabschluss.

Nein, hatte ich nicht. – Heisig schaut aus seinen Seemannsaugen, ein sehr alter Trotz ist darin. So gucken nur gelernte Studienabbrecher. Die SED-Genossen in der soeben gegründeten DDR hatten den Studenten genervt. Ihre herrische, rechthaberische Gebärde. Ihre Selbstherrlichkeit, die nicht viel vom Malen wusste. Und erst recht nicht vom „Formalismus“, gegen den sie kämpften. Der Rektor kam aus dem KZ. Er hatte das Recht der Toten auf seiner Seite. Wie kritisiert einer das Recht der Toten? Aber er, Heisig, war zu lebendig, um die Herrschaft der Toten zu ertragen. Er ging. Immer, wenn es ihm zu viel wurde, ging er. Dieses Muster wird er beibehalten.

Er war es gewohnt, sich durchzuschlagen. Als Spitzwegkachelproduzent oder nun, ab 1951, als Messemaler. Ein paar Jahre später, als die Kunst tiefer Atem holen konnte, rief die Hochschule den Messemaler Heisig zurück. Als Dozenten. Er war längst Oberassistent, als man bemerkte, dass dieser Oberassistent gar keinen Abschluss besaß. Kurz darauf war Heisig Rektor – bis zu seiner Absetzung. Offiziell hieß es, er habe seine Erziehungsaufgaben vernachlässigt. Das war die Umschreibung dafür, dass er die Partei einen Kindergarten genannt hatte – in einer offiziellen Rede auf dem V. Kongress des Verbandes Bildender Künstler. Keiner begreift die DDR, der nicht weiß, dass sie vor allem ein hochneurotisches Staatsgebilde war.

Damals begann Heisig zu malen wie Heisig. Jede Figur auf seinen Bildern steht in der Mitte zwischen sich selbst und ihrem Gegenteil. Heisig malt uns als Kreaturen. Es sind viele andere Maler in Heisigs Bildern – das ist nicht Nachahmung, das ist Achtung der Älteren. Sie sprechen zu ihm, am lautesten spricht Max Beckmann.

Wenn Bernhard Heisig jetzt aufstehen würde und aus der Ateliertür gehen, könnte er über die Wiesen direkt bis an den See laufen. Er weiß nicht, wann er das zum letzten Mal gemacht hat.

Er ist der Überlebende des beargwöhnten Leipziger „Kunstwunders“. Manche Jüngere sehen das mit dem Leipziger Kunstwunder anders. Denn jeder junge Mensch, der noch bei Trost ist, glaubt, das eigentliche Wunder sei er. Lutz Dammbeck hat über die „Leipziger Schule“ einen Film gemacht. Er heißt „Dürers Erben“. Vor ein paar Jahren wurde er im Festsaal der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst gezeigt, genau dort, wo Heisig und Tübke Rektoren wurden. Tübke gesteht im Film, dass er sich vor vielen modernen Sachen ungemein langweile, und Heisig sagt, wie wichtig es ihm immer gewesen sei, das eigene Talent zu fördern. In der nächsten Szene tritt der malende Schimpanse Pablo auf, der gerade den Zusammenhang zwischen Fressen und Malen begreift. Und heute, schließt „Dürers Erben“ anklagend, gäbe es tatsächlich noch Menschen, die in dieser „Trümmermasse“ Haltungen und Bilder eingeschlossen finden, die ihnen als „Alternative zur erschöpften Moderne gelten“.

Und dann gab es noch solche wie Georg Baselitz, der 1957 die DDR verlassen hatte. Er wollte nach der Wende den Wirkungskreis von Wundern geografisch streng limitieren: Wunder habe es grundsätzlich nur im Westen geben können. Was im Osten entstand, war Schrott. Sinngemäß. Umso mehr freut sich Heisig auf seine große Geburtstagsausstellung nächstes Jahr. Nach Leipzig und Berlin kommt sie auch nach Düsseldorf, in das Zentrum der Wunder-gibt-es-nur-imWesten-Maler.

Bernhard Heisig, ein Staatsmaler? Bisher hatte er drei Staatsaufträge. Einen von der DDR und zwei von der Bundesrepublik. Für den Palast der Republik malte er „Ikarus“, der nicht fliegen wollte, bis seine Frau ihm neue Füße malte. Und für die Bundesrepublik malte er Helmut Schmidt und das Reichstags-Cafeteria-Bild.

Dass Maler immerzu irgendwo runterfallen, kennt er schon. Sein Vater war keine Ausnahme. Er ist zuletzt auch viel gefallen. Immer, wenn er vergaß, dass er eigentlich alt ist. Einmal auf Gran Canaria, als er endlose Serpentinen auf einen Berg hinauffuhr, und dann wieder ein Stück hinunterlief. Das nächste Mal, weil das Haus eines befreundeten Arztes seltsame Abgründe besaß. Und jedes Mal brach er sich die Malhand. Hat der Mensch eigentlich die Pflicht, sich zu merken, dass er alt ist? Jetzt fällt es ihm leichter. Der Rollstuhl ist eine gute Gedächtnisstütze. Schon vor dem Losgehen fällt Bernhard Heisig jetzt alles ein, was er wissen muss – und er bleibt sitzen.

Es stimmt auch nicht ganz, dass Heisig noch genauso malt wie vor 40 Jahren. Manches würde er ganz anders malen, und das macht er auch. Wenn das Bild, das er gerade anders malen will, im Museum hängt – Pech fürs Museum. Gudrun, lenk mal die Aufsicht ab!, hatte er vor vielen Jahren zu seiner Frau, der Malerin Gudrun Brüne, gesagt. Er zog Farben und Pinsel aus der Tasche und korrigierte seelenruhig sein Pariser-Commune-Bild im Leipziger Museum. Ein Gesichtsausdruck war falsch. Das Museum fiel nachher in Ohnmacht. Die Geschichte übermalt doch auch immerzu, warum soll er das nicht dürfen?

Wenn man im Rollstuhl sitzt, ist das Übermalen von Bildern, die einem nicht mehr gehören, viel schwerer. Er hat jetzt eins vor sich im Atelier, ein fünfteiliges Riesenbild, das heißt „Gestern und in unserer Zeit“. Liegt also schon im Titel, dass es ab und zu verändert werden muss. Nur ist Heisig jetzt darauf angewiesen, dass die Besitzer die Bilder vorbeibringen. „Gestern und in unserer Zeit“ malte er 1974 für den Neubau der SED-Bezirksleitung in Leipzig , heute gehört es der Nationalgalerie. Auch sie hat eingesehen, was Heisigs Galeristen längst wissen: Es hat gar keinen Sinn, dem Maler zu widersprechen.

Gudrun Brüne, die Malerin, die einmal seine Schülerin war, kommt herein. Sie ist die einzige, der er nie widerspricht. Ihre Bilder sind seinen verwandt, nur vollkommen anders. Er sieht sie an, wie man jemanden ansieht, ohne den man nicht mehr leben würde. Ohne den er nie den Wirbelsäulenbruch überstanden hätte, den er sich holte, weil er im Krankenhausbett aufstehen wollte. Es war natürlich eine Provokation: Ausgerechnet das Rückgrat, wo er so stolz ist auf sein Rückgrat! Wenn schon die Zeiten sich ändern, sollte man sich selbst wenigstens ähnlich bleiben, findet Bernhard Heisig.

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