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Der Untergang der Titanic: Mit Volldampf in die Katastrophe

Menetekel im Nordatlantik: Warum die Schiffstragödie vor 100 Jahren die Schrecken des 20. Jahrhunderts vorwegnahm. Im Wettkampf um immer größere Passagierdampfer spiegelte sich das maritime Wettrüsten zwischen England und Deutschland, das zum Ersten Weltkrieg führte.

Eine nervös ratternde Telegraphennadel in Großaufnahme. Dann das Gesicht der Postbeamtin. Es versteinert beim Blick auf die Nachricht, die der Apparat auf einer Papierschleife ausspuckt. „Oh Gott“, flüstert sie. „Das ist doch nicht möglich.“ Als das Telegramm mit der Hiobsbotschaft das Herrenhaus erreicht, sind Gerüchte über ein größtmögliches Unglück bereits von der Küche und dem Bedienstetentrakt durchs Treppenhaus ins Speisezimmer vorgedrungen, in dem der Hausherr, ein Lord, gerade die frisch gebügelte „Times“ liest. „Die meisten Damen sollen rechtzeitig heruntergebracht worden sein“, versucht ihn der Butler zu beruhigen. „Die Damen der ersten Klasse“, fährt ihn der Lord an. „Gott helfe den armen Teufeln auf den unteren Decks.“

So beginnt „Downton Abbey“, die gefeierte Fernsehserie über den Niedergang einer Adelsfamilie in der englischen Provinz vor und im Ersten Weltkrieg. Der Untergang der Titanic in der Nacht vom 14. zum 15. April 1912 markiert für den fiktiven Clan der Crawleys eine Zeitenwende. An Bord war ein entfernter Cousin, der die älteste Tochter heiraten sollte, mit seinem Tod ist das Familienerbe bedroht. Bereits im Bewusstsein der Zeitgenossen versank mit der Katastrophe im Nordatlantik mehr als bloß das bis dahin größte Schiff der Welt. Eine Ära endete symbolisch.

„Nie wieder wird die Welt so sein, wie sie war“, heißt es im 1955 veröffentlichten, kurz darauf verfilmten Roman „A Night to Remember“, den der amerikanische Autor Walter Lord aus Erinnerungen von Überlebenden montierte. Der Glaube an die Beherrschbarkeit der Natur, an Fortschritt und Technik zerschellte an einem Eisberg vor Neufundland. „Die Menschen haben sich seitdem nie wieder sicher gefühlt.“ Das Schiffsdrama wurde sogleich als Fingerzeig Gottes gedeutet, bald mischte sich Nostalgie ins Entsetzen. Demnach stand der 269 Meter lange Luxusdampfer, eine Art Grandhotel mit Anker, für eine gute alte Zeit, in der Männer noch ritterlich agierten und jeder wusste, an welchen Platz der Gesellschaft er gehört.

Das unterschlug zwar, dass sich einige Männer keineswegs ritterlich vor Frauen und Kindern auf die Rettungsboote gedrängt hatten. Doch im sozialen Mikrokosmos an Bord der Titanic spiegelte sich tatsächlich ein rigides Klassensystem, das von den egalisierenden Schützengrabenkämpfen des Weltkriegs und den Wirtschaftskrisen danach hinweggefegt werden sollte. Während die vier reichsten Männer der Welt in Suiten mit eigenen Balkonen residierten und mit ihren Angehörigen in Haute-Cuisine-Restaurants dinieren oder in einem eigenen Gymnastikraum trainieren konnten, mussten sich die Auswanderer im Unterdeck enge Vierbettzimmer teilen. Aus Quarantänegründen wurden die Passagiere der Dritten Klasse streng von den übrigen Reisenden getrennt, ein Grund dafür, dass die Todesrate dort besonders hoch war.

1500 Menschen starben auf der für „unsinkbar“ erklärten Titanic, damit ist ihr Ende keineswegs das schlimmste Schiffsunglück der Geschichte. Zum Jahrhundertmythos – darauf weist die Kulturwissenschaftlerin Linda Maria Koldau in ihrem gerade erschienenen Titanic-Buch hin – konnte der Unfall nur aufsteigen, weil er zu Beginn des Medienzeitalters stattfand. Die Einführung der Telegraphie hatte nicht nur dafür gesorgt, dass das untergehende Schiff SOS-Notrufe absetzen und das daraufhin herbeieilende Passagierschiff Carpathia rund 700 Überlebende aus den Rettungsbooten aufnehmen konnte. Die drahtlose Kommunikation machte es auch möglich, dass sich die Nachricht von der Hochseetragödie in Windeseile weltweit verbreitete.

Der „New York Times“ gelang ein Scoop, als sie noch vor dem Einlaufen im Hafen von New York den Reporter Jim Speers für Exklusivstorys an Bord der Carpathia brachte. In den folgenden Wochen belagerten Journalisten die Augenzeugen, Illustrierte veröffentlichten „In memoriam“-Ausgaben, die mediale Verwertungskette des Untergangs reichte von Postkarten über Laterna-Magica-Vorführungen, Musicals und Theaterstücken bis zum rasch abgedrehten ersten Stummfilm. Bis heute ist es vor allem das Kino, das den Mythos am Leben erhält, zuletzt mit James Camerons epochalem „Titanic“-Film von 1997, der soeben in einer nachbearbeiteten 3-D-Version noch einmal vom Stapel gelaufen ist.

Interessanterweise waren es besonders die Funker, Pioniere der Medien-Ära, denen in der Berichterstattung Heldenkränze gewunden wurden. So feierte in den „Dresdner Neuesten Nachrichten“ ein überlebender Kollege den „Opfertod“ des „ersten Telegraphen-Beamten des Schiffes“: „Nie werde ich die letzten 15 Minuten vergessen, in denen Philipps ruhig seiner Arbeit nachging, Notschreie in den Äther schickend. Er war nicht vom Apparat wegzubringen, trotzdem das Wasser bereits in unseren Raum lief.“

Wenn das Jahr 1912 heute als Epochenjahr gilt, hat das noch einen anderen Grund: Der Untergang der Titanic weist als Menetekel auf den Ersten Weltkrieg und die Schrecken des 20. Jahrhunderts voraus. Er steht für die menschliche Hybris in der besonderen Spielart eines militanten Chauvinismus, der eine mehr als 40-jährige Friedensphase in Europa beenden sollte. Spätestens seitdem Kaiser Wilhelm II. für Deutschland einen „Platz an der Sonne“ mit eigenen Kolonien in Übersee gefordert hatte, war aus dem einst freundschaftlichen Verhältnis zur Seemacht Großbritannien eine Konkurrenz geworden, die in ein maritimes Wettrüsten mit immer neuen Bruttoregistertonnen-Superlativen mündete.

„Für Deutschland ist zur Zeit der gefährlichste Gegner zur See England“, erklärte Marinestaatssekretär Alfred von Tirpitz und trotzte dem Reichstag die Auflage von immer neuen Flottengesetzen ab. In Wilhelm II. fand er einen begeisterten Fürsprecher, der eigenhändig gezeichnete Schiffsskizzen im Parlament verteilen ließ. In London führte die „Flottenpanik“ zum Bau von Superschlachtschiffen der „Dreadnought“Klasse, auf die Berlin mit Großkampfschiffen der „König- und Kaiser-Klasse“ reagierte. Als 1906 die erste Dreadnought (Fürchtenichts) vom Stapel lief, wurden enthusiasmierte Zuschauermassen in Sonderzügen aus der Hauptstadt nach Portsmouth gebracht.

Ähnliche Jubelszenen wiederholten sich, als die Titanic am 10. April 1912 in Southampton zu ihrer Jungfernfahrt aufbrach. Der nationalistische Überbietungskampf um ein Schneller, Größer, Teurer eskalierte, der Bau immer neuer Riesendampfer war das zivile Gegenstück zum militärischen Wettrüsten. Bereits 1912 vermuteten deutsche Zeitungen, die Kosten für die Instandhaltung der Titanic sowie ihrer Schwesterschiffe Olympic und Gigantic seien so hoch, dass „diese gewaltigen Betriebskosten sich auf keinen Fall rentieren könnten“. Es ging weniger um Geld als ums Prestige.

Nachfolger der Titanic als größtes Schiff der Welt wurde der Imperator, der 1913 von der Hapag-Reederei für die Hamburg-Amerika-Linie in Dienst gestellt wurde. Der Meeresgigant, der mehr als 4000 Passagiere und 1200 Besatzungsmitglieder aufnehmen konnte, wurde auf Wunsch von Wilhelm II. mit dem männlichen Artikel „der“ geadelt. Nach dem Waffenstillstand von 1918 fiel der Imperator an die Siegermächte. Bis zur Verschrottung 1938 war er zwischen Liverpool und New York unterwegs, als Berengaria – benannt nach der Frau des legendären englischen Königs Richard Löwenherz.

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