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Kultur: Der verbotene Liebesverrat

Sex und Wahrheit: Das Bundesverfassungsgericht untersagt Maxim Billers Roman „Esra“

Nun ist es passiert. Das Bundesverfassungsgericht hat als letzte Instanz das Verbot von Maxim Billers 2003 erschienenem kleinen Roman „Esra“ bestätigt. Das endgültige Verdikt gilt ausdrücklich einem „Gesamtverbot“ des bereits in mehreren zivilrechtlichen Instanzen indizierten Buchs. Es sei nicht Aufgabe der Justiz, argumentieren die Karlsruher Richter, konkrete Hinweise für eine womöglich unanstößige Neufassung der Erzählung zu geben, da die rechtlich problematischen Passagen formal und inhaltlich allzu dicht mit dem ganzen Text verwoben seien. Damit scheiden für den in Berlin lebenden Autor und seinen Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch auch im Detail bereits veränderte Versionen von „Esra“ aus. Es müsste schon ein weitgehend neues Buch entstehen.

Zur Erinnerung: Maxim Biller schildert als Ich-Erzähler Adam die scheiternde Liebensbeziehung zu einem Mädchen namens Esra, einer mit einem Bundesfilmpreis ausgezeichneten deutsch-türkischen Schauspielerin, die ein schwerkrankes Kind hat und offenbar von ihrer Mutter dominiert wird, die ihrerseits einen „alternativen Nobelpreis“ bekommen hat und trotzdem in allerlei Intrigen und geschäftliche Machenschaften verstrickt sei. In beiden Personen hatten sich zwei Frauen wiedererkannt, und spätestens durch ihre Klagen wusste auch eine erweiterte Öffentlichkeit, dass Biller alias Adam und seine Esra genannte Figur auch im realen Leben früher intim verbunden waren.

Die Karlsruher Entscheidung ist mit Spannung erwartet worden. Nicht allein wegen „Esra“. Ein weiterer Fall, in dem die Ex-Geliebte eines Autors gegen einen biographisch gefärbten Roman geklagt hat, war ebenfalls 2003 Albin Nikolai Herbsts „Meere“: ein Buch, das inzwischen mit einigen Auslassungen und Änderungen wieder erscheinen durfte. Immer mehr aber häufen sich Klagen, mit denen Personen (oder gar Firmen) gegen Romane, Filme und Fernsehspiele vor Gericht ziehen, weil die Werke angeblich ihre Persönlichkeitsrechte verletzen. Dabei zeichnet sich eine Tendenz der Rechtsprechung ab, Spielräume der nur im Ausnahmefall durch andere Grundrechte begrenzten Kunst- und Meinungsfreiheit schnellfertig einzuengen.

Ein Musterbeispiel ist der als „Kannibale von Rotenburg“ in die Zeitgeschichte eingegangene verurteilte Mörder Armin Meiwes. Der hatte seine Horrorgeschichte selbst schon in Interviews veröffentlicht und über Filmrechte verhandeln lassen, als es ihm gelang, einen ihm nicht genehmen Spielfilm gerichtlich zu stoppen. Andererseits hat es der WDR kürzlich nur mit einiger prozessualer Mühe geschafft, einen Film über das Schicksal von Contergan-Geschädigten – ein anderer, sehr viel bedeutenderer Horror-Fall der Zeitgeschichte – gegen Einsprüche der einstigen Contergan-Hersteller zu verteidigen und demnächst senden zu können.

Das gestern ergangene, für Experten im Internet nachlesbare „Esra“-Urteil provoziert nun fast gleichermaßen Kopfnicken wie Kopfschütteln. Denn es ist im Spannungsverhältnis zwischen grundgesetzlicher Kunstfreiheit und dem sogenannten Allgemeinen Persönlichkeitsrecht eine in der Wirkung zwar eindeutige, in der Begründung jedoch höchst widersprüchliche Entscheidung. Von den acht Verfassungsrichtern haben drei denn auch ihre dissenting votes zugunsten von „Esra“ Protokoll gegeben.

Das Gericht jedenfalls hat mit seiner Mehrheit – anders als zuvor noch der Bundesgerichtshof – wohl eine die künstlerische Freiheit überragende Persönlichkeitsverletzung der Esra genannten jungen Frau angenommen, aber das Recht des Romanciers gegenüber den Klagegründen der Esra-Mutter gestärkt. Obwohl Karlsruhe auch die reale Mutter als Vorbild der Romanfigur für wiedererkennbar hält und der dieser im Buch „charakterliche Schwächen“ wie Alkoholismus, gewalttätige familiäre Tyrannei (bis hin zur Nötigung der Tochter zur Abtreibung) sowie Diebstahl und Verbindungen zur Mafia bescheinigt werden, falle das alles nicht entscheidend ins Gewicht. Der Ich-Erzähler schildere hier nämlich keine Ereignisse aus eigenem Erleben, sondern zitiere überwiegend nur Gehörtes, von anderen Figuren Behauptetes.

Karlsruhe sieht, nach Stellungnahmen unter anderem vom Deutschen Schriftstellerverband und des PEN-Clubs, in „Esra“ ein Werk des „subjektiven Realismus“ und sagt: „Für ein literarisches Werk, das an die Wirklichkeit anknüpft, ist es gerade kennzeichnend, dass es tatsächliche und fiktive Schilderungen vermengt.“ Weil der Ich-Erzähler, der freilich auch eine Romanfigur ist, bei den Mutter-Passagen überwiegend durch fremde Zungen redet, vergibt das Gericht einen gleichsam doppelten Bonus des womöglich Erfundenen. Es sei „zunächst einmal von der Fiktionalität des Textes auszugehen“. Außerdem handle es sich, trotz des extrem negativen Mutter-Bildes, um keine gezielten „Schmähungen“. Insofern erübrige sich auch jeglicher Tatsachenbeweis, es gehe um Dichtung, nicht Wahrheit.

Die „Fiktionalität“ von „Esra“ ist nun aber in jedem Fall die Grundlage des Verfahrens. Wäre das Buch eine Dokumentation oder Reportage, hätte das Gericht die Kunstfreiheit in Artikel 5 Grundgesetz gar nicht bemühen müssen. Einen geringeren fiktionalen (sprich: kunstfreiheitlichen) Bonus vergibt das Gericht allerdings im Fall der Tochter, des realen Vorbilds für Esra.

Weil es hier nicht um offenbar vergleichsweise harmlose Fragen wie Betrug, Diebstahl, Nötigung und Mafia geht, sondern – neben dem ebenfalls real existenten kranken Kind – um so Intrikates wie Sex, also um einige haarklein geschilderte körperlich-seelische Vorlieben, Eigenarten, Lust- und Schmerzgründe, macht das Gericht plötzlich eine Kehrtwendung. Wieder sei kein Wahrheitsbeweis nötig oder zumutbar, es geht ja um Dichtung. Trotzdem sei die Intimsphäre als „Kernbereich“ des Persönlichkeitsrechts betroffen, weil der Erzähler, der ja doch weitgehend identisch sei mit dem Autor Biller, angeblich unwiderlegbar Selbsterlebtes im Mantel des Romans enthülle und damit seine Ex-Geliebte bloßstelle. Das müsse diese nicht dulden, egal ob wahr oder erfunden.

Damit wird für das Thema Sex in der Literatur und Kunst nun eine doppelte Anforderung gestellt. Alles müsse so erfinderisch verfremdet sein, dass sich nicht ein einzelner, sondern möglichst jeder darin wiedererkennen könne. Ohne den Einzelfall ist das Allgemeingültige in der Literatur aber schwer denkbar. So indes versucht sich Karlsruhe wie am eigenen Schopf aus jenem Sumpf zu ziehen, in den erst die Klagen über Billers tatsächlich eher kolportagehaft mit Empfundenem, aber kaum Erfundenem dahinplauderndes Büchlein geführt haben.

Wir müssen hier nicht Fontane, Proust, Thomas Mann oder Henry Miller, auch nicht wie im Urteil Goethes „Werther“ als biographisch gefärbte Literatur bemühen. „Esra“ ist ein Fall von real-fiktivem, eher privatem als poetischem Liebesverrat. Man muss das nicht lesen. Aber man sollte es eigentlich dürfen.

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