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Kultur: Der Vorhang öffnet sich

St. Petersburg feiert seinen 300. Geburtstag. Die Stadt, die der Zar in die Wildnis baute und die Hitler für immer auslöschen wollte, begegnet auf der Suche nach der verlorenen Zeit ihrer Vergangenheit und Zukunft. Denn Petersburg ist Europas Tor zu Russland

Sankt-Petersburg begeht am 27.Mai den 300. Jahrestag seiner Gründung im Jahre 1703 – Peter der Grosse soll an diesem Tag den Grundstein zum Bau der Peter-Paul-Festung auf der Haseninsel, der Urzelle der künftigen Stadt, gelegt haben. Eine ganze Stadt wird zur Bühne für einen nie dagewesenen event. Die Stadt befindet sich im Festtags-Ausnahmezustand. Zehntausende von Sicherheitskräften, evakuierte Wohnungen entlang der Straßen, durch die die Limousinen der über 40 von Präsident Putin geladenen Staatsoberhäupter fahren werden, Verbannung des gewöhnlichen Autoverkehrs aus dem Zentrum, Sperrung des Flughafens und der Einfahrt in die Newa. Wer kann, verlässt die Stadt.

Und doch ist es mehr als ein event. Der Lebensrhythmus von Städten folgt nicht den Eintragungen in einem Festtagskalender. Beim Petersburger Jubiläum geht es um mehr als nur ein Fest aus gegebenem Anlass. Die Feiern, die am letzten Freitag begonnen haben und die ganze Woche über andauern, sind das Zeremoniell, mit dem sich Petersburg im Kreis der grossen europäischen Metropolen zurückmeldet. Europa hatte Petersburg vergessen. Auf seiner geistigen Karte war es allenfalls noch eine Ansammlung von Museen, Schauplatz längst vergangener, fast schon legendärer Ereignisse, nicht ein Ort, an dem die europäische Geschichte weitergeht. Im Jubiläumsjahr machte die EU nicht das „Palmyra des Nordens“ zur „Europäischen Kulturhauptstadt“, sondern Graz; auch Berlin ist zu Sankt Petersburg, diesem anderen europäischen Stadtschicksal im 20. Jahrhundert, nichts oder kaum etwas eingefallen.

Die Stadt hatte sich schon lange auf diesen Auftritt vorbereitet. Der ganze Newski-Prospekt mit seinen klassizistischen und gründerzeitlichen Fassaden war hinter einem grandiosen, aus Reklameflächen gewebten Vorhang – „Machen Sie Ferien auf Kreta und Zypern!“ oder „Nehmen Sie Nokia!“ – verschwunden. Jetzt sind die Gerüste abgebaut, der Vorhang weggezogen, der Prospekt leuchtet in neuem Glanz. Die Stadt hat begonnen, ihre Trottoire und Straßen in Ordnung zu bringen. An Trottoiren kann man ablesen, wie es um Städte steht. Trottoire und Straßenbeläge sind so etwas wie die Haut der Stadt, ihr empfindlichstes Organ. Jetzt sind sie erneuert in einer handwerklichen Vollkommenheit, die es mit den Standards der alten Kaiserstadt aufnehmen kann. Das sind nur Details, aber an ihnen zeigt sich ein neues Verhältnis zur eigenen Stadt, zum öffentlichen Raum.

Festung, Fluchtort, Feierstätte

Die Restaurierung, die jetzt in Gang gekommen ist, ist etwas anderes als das alljährliche Übertünchen abblätternder Fassaden, wie es in Sowjetzeiten üblich war. Im grossen Stil wird Petersburg in Ordnung gebracht: verwahrloste Friedhöfe, umgestürzte Grabdenkmäler, schmiedeeiserne Tore und Gitter, Hunderte von Skulpturen und Reliefs an den Kais, in den Parks, Balkons, die herunterzustürzen drohten, jahrzehntelang nicht erneuerte Fassaden, Toreinfahrten, Obelisken – nicht zu reden von Hunderten von Interieurs in Palais und Villen, die in der Vergangenheit immerzu genutzt, selten aber wiederhergerichtet worden sind. Mit den Renovierungsarbeiten entstehen Straßenzüge und Plätze neu, ändert die Stadt ihr Aussehen.

Gewiss sind Teile der rund 1,3 Milliarden US-Dollar, die die Moskauer Regierung für die Renovierung zur Verfügung gestellt hat, in „dunklen Kanälen“ verschwunden; gewiss profitieren einige mehr als andere von den Maßnahmen. Aber der Renovierungsboom ist keine Potjomkinsche Veranstaltung. Es spricht sich darin der fast unbändige Wille zur Wiedergewinnung der Form aus, die der Stadt in den Jahrzehnten der Not, der Demütigung und der Provinzialisierung abhanden gekommen ist. Die Preise für Grund und Boden steigen, die Stadt hat wieder ihre erstklassigen und weniger guten Lagen, der Wohnungsfonds mit seinem überdurchschnittlich hohen Anteil an riesigen und einst luxuriösen Altbauwohnungen, die jahrzehntelang als Gemeinschaftswohnungen genutzt waren, kommt in Bewegung. Die Immobilienpreise steigen – der untrüglichste Beweis dafür, dass es aufwärts geht.

Sankt Petersburg übt sich in urbanen und bürgerlichen Tugenden und will den Ruf, Hauptstadt des organisierten Verbrechens und der politischen Morde zu sein, loswerden. Die Armseligkeit der Schaufenster und Auslagen von einst ist dahin. Wer immer es sich erlauben kann, richtet sich neu ein. So teilt sich die Stadt in Bezirke und Straßen, die schon sehr weit sind und solche, die stagnieren. Die Stadt ist aus einer Stadt der ratternden Straßenbahnen und über das Pflaster donnernden LKWs auch eine des Individualverkehrs geworden – sie pendelt sich in Sachen Tempo und Komfort auf europäischem Normalstandard ein.

Für Reisende, die aus Moskau kommen, ist die Petersburger Gangart langsam, weit zurück gegenüber dem Tempo der Hauptstadt, die Monat für Monat neue Türme in den Himmel stemmt. Aber in Moskau laufen die Ströme des russländischen Kapitals zusammen (man sagt 70 Prozent); Moskau hat einen Bürgermeister, der es vermocht hat, die Kräfte der Zwölf-Millionen-Stadt ins Spiel zu bringen. Moskau erscheint wie ein Stadtstaat mit eigenen Regeln, auf eigenem Territorium, als fremde Enklave im eigenen Land. In St. Petersburg ahnt man heute, wie groß die Schubkräfte sein müßten, um die Stadt an der Newa wieder voll in Schwung zu bringen. Und es ist nicht irgendeine große Stadt. Man sieht Petersburg bis heute an, dass sie Reichshauptstadt, Kaiserstadt, Zentrum eines Imperiums war – von der Dimension her, aber auch von der transnational-imperialen Physiognomie der Bauten und Stilformen her. Nur große Imperien können sich Städte dieser Größenordnung leisten. Petersburg hat nach der Revolution nicht nur die Hauptstadtfunktionen an Moskau abgeben müssen; ihr war auch auch das Imperium, das die Stadt genährt und getragen hatte, abhanden gekommen. Hinter allem, was es in Petersburg an großem, großartigem gibt – die Prospekte, die Räume, die Paläste, die Parks, die kaiserlichen Residenzen in den Vororten – steht das Reich von einst. Nun, da es keinen Weg zurück zum Imperium gibt, bleibt nur das Empire, die Aussicht auf den Anschluss an die Welt der globalen Ströme von Kapital, Menschen und Ideen. Petersburg war schon einmal so weit. Es war vor dem Großen Krieg die glücklichste und produktivste Zeit, in der die Stadt ganz Europa verschwenderisch mit Genies versorgt und unter Sergej Djagilews Regie die Saisons Russes gebracht hat.

Das Petersburger Schicksal verkörpert – dem Schicksal Berlins nicht unähnlich –, was manchen europäischen Städten im 20. Jahrhundert widerfuhr: Entvölkerung durch Krieg und Bürgerkrieg, ja Bevölkerungsaustausch durch Flucht und Abwanderung einerseits, massive bäuerliche Immigration im Zuge der Industrialisierung andererseits, die Drohung physischer Vernichtung durch die deutsche Belagerung, Dezimierung der alten und neuen Eliten durch Exil, Terror und Säuberungen. St. Petersburg war ein Laboratorium der Moderne, ein Laboratorium im Jahrhundert der Extreme.

Noch immer finden sich Petersburger, die eine Erinnerung an die vorrevolutionäre Stadt haben: an das belgische Schokoladengeschäft an der Ecke, an die aus dem Anitschkow-Palais winkenden Zarenkinder, an die Unruhen vom Oktober 1917. Es ist ein Geschichtswunder, dass die Stadt sich immer wieder regeneriert und neue Kräfte akkumuliert hat. Petersburg-Leningrad erwies sich als unbeugsam, unbesiegbar. Es hatte, wie Alexander Benois meinte, die Toga des römischen Senators nie abgelegt, und es hatte auch in den bedrückendsten Zeiten nie die strahlende Kraft verloren, die Schostakowitschs Siebter Symphonie, der Leningrader, eigen ist. So hat sie alles überstanden – auch die Jahrzehnte der Provinzialisierung, der Abdrängung an die Peripherie, die Engstirnigkeit und Vulgarität, von der Joseph Brodsky ganz krank geworden war. Die Stadt, die im 20. Jahrhundert fast alles war – belagerte Festung, Fluchtort, Überlebensort, Ort des Massensterbens durch Hunger und Kälte, Exekutionsort, Schauplatz größter Demütigungen – sie sammelt erneut ihre Kräfte.

Die ganze Welt im Quadrat

Petersburg sucht seinen Platz in einem veränderten Europa. Petersburg ist nicht nur die zweitgrößte Stadt in der Russischen Föderation, sondern mit knapp fünf Millionen Einwohnern auch größte Stadt des nordöstlichen Europas, des ganzen Ostseeraums, Zentralpunkt im Koordinatensystem von Kopenhagen, Stockholm, Danzig, Riga, Tallinn, Helsinki. Petersburg ist vom nächsten Jahr an keine zwei Autostunden von der neuen Grenze der Europäischen Union entfernt und damit unmittelbar Europas Tor nach Russland und umgekehrt. Noch nie war Petersburg so nah an Europa, das seine Teilung hinter sich gebracht hat. Lage und geschichtliche Voraussetzungen arbeiten für die Stadt, wenn sie nur endlich den Heimvorteil zu nutzen beginnt und wieder zur Hafen- und (sobald die hinderlichen, unnötigen Visarregelungen fallen) zur offenen Stadt werden wird.

St. Petersburg ist wie andere Kolonialstädte, wie New York, geometrisch angelegt, in übersichtlichen Blocks und neighbourhoods, jedes Quartier eine Welt für sich, differenziert, multifunktional, komplex. Das bedeutet: höchste Dichte, höchste Konzentration von intellektuellem Potenzial, kurze Wege, die ideale Landschaft des information age. Petersburg könnte, wenn es nur wollte und die Hindernisse aus dem Weg räumte, sein kulturelles Kapital ins Spiel bringen und zu einer Metropole des Tourismus werden. Petersburg braucht Middleclass-Hotels für Touristen, nicht Luxussuiten für das spärliche Personal der World Bank und anderer Institutionen. Petersburg ist eine wahre Schatzkammer des Imperiums und der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dort gibt es nicht nur die Ermitage, sondern Museen, von deren Wert die Petersburger oft selbst nicht einmal etwas ahnen: die Eisenbahnmuseen etwa. Und Petersburg hat ein Nachtleben, das offenbar alle Städte, die Diktaturen abgeschüttelt haben, in einem Rausch des Nachholens zu entwickeln pflegen – siehe Barcelona und Madrid nach Francos Sturz.

Petersburg ist wiederum zum Schauplatz einer atemberaubenden Metamorphose geworden. Auf die vielen Untergänge scheinen immer wieder Regenerationen zu folgen. Die Geschichte der Provinzialisierung Petersburgs war zugleich die Geschichte seiner Rettung: Nur als entmachtete Stadt blieb sie von den gigantomanischen Umgestaltungen und Eingriffen der Stalinzeit verschont. Die Geschichte der Vernachlässigung war zugleich die Geschichte der Bewahrung: Nur die Aufteilung der bürgerlichen Wohungen und Villen in Gemeinschaftswohnungen hat sie vor Abriss bewahrt. Und es waren die bäuerlichen Immigranten der 30er und 40er Jahre, die die Stadt, in der die Ureinwohner längst in die Minderheit geraten waren, am Leben gehalten haben. Und natürlich: Es gäbe kein Petersburg mehr, wenn es nicht Leningrad und seine Verteidiger gegeben hätte.

Eine Kette der Paradoxe, eine eigentümliche List der Vernunft. Auch jetzt ist es nicht anders – Petersburg feiert, seine Plätze und Wasserflächen werden zur grandiosen Bühne für Haupt- und Staatsaktionen, für die Rituale der Macht. Doch in Wahrheit verhält es sich wie immer, die Stadt führt Regie, nicht das politische Personal; die Statisten kommen und gehen, St. Petersburg aber bleibt.

Der Autor veröffentlichte zuletzt „Petersburg. Das Laboratorium der Moderne“; er lebt als Kulturhistoriker in Berlin und lehrt an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.

Karl Schlögel

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