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Kultur: Der Wahrsager

Er war ein Hallodri und Poet, Freigeist und Freund Lessings – und Erfinder des Wetterberichts. Zum 250. Todestag des Christlob Mylius

Lessings Vater, Hauptpastor in Kamenz, war entsetzt: Nicht nur, dass sein Filius, statt in Leipzig Theologie zu studieren, nach Berlin gegangen war, um Komödien zu schreiben; nein, er hatte sich ausgerechnet bei Christlob Mylius einquartiert, dem größten Hallodri, den man in Kamenz und Leipzig kannte, einem genialischen jungen Mann, der nichts als Ärger, Schulden und Skandal machte und nun den Sohn gewiss ins Verderben ziehen würde. Der 20-jährige Gotthold Ephraim in Berlin, das war schlimm genug. Aber nun auch noch als Stubengenosse des lasterhaften Mylius: Das brachte den strengen Geistlichen auf die Palme.

König Friedrich teilte seinen Zorn. Zur gleichen Zeit, 1749, hatte Mylius ihn mit seiner frechen Zeitschrift „Der Wahrsager“ gründlich vergrätzt, so dass er sie erstens verbot und das zweitens zum Anlass nahm, die Gazetten überhaupt wieder mehr zu genieren. Mylius – wir erinnern, zu seinem 250. Todestag, an ein Multitalent: Poet, Journalist, Astronom, Satiriker, Naturforscher, Genie des Ärgernisses. In der Nacht zum 7. März 1754 ist er, mit knapp 32 Jahren, in London gestorben; eigentlich wollte er nach Amerika.

Christlob Mylius stammte, wie Lessing, aus der großen Vorratskammer der deutschen Dichter: dem protestantischen Pfarrhaus. Seine vier älteren Brüder hatte ebenfalls fromme Namen: Christlieb, Christfried, Christhelf und Christhilf. Christlob hat fünf Jahre lang, von 1748 bis 1753, die preußische Residenz regelrecht aufgemischt, ein typischer Angehöriger der „Generation Wolff“ (wie man sie nach dem rationalistischen Philosophen Christian Wolff nennen könnte): einer, dem nichts heilig war. Eigentlich war er nach Berlin gekommen, um eine Sonnenfinsternis zu beobachten; aber er hängte noch eine Mondfinsternis und ein Gespräch mit dem Mathematiker Euler dran und trat im November 1748 als „Zeitungsschreiber“ bei der „Berlinischen Privilegierten Zeitung“ (der späteren Vossischen) an. In dieser Zeit holte er Lessing nach: kein Schurkenstück, sondern ein Freundschaftsdienst.

Mylius brauchte bald wieder eine eigene Zeitschrift. Einige hatte er schon hinter sich; ihre Titel spiegeln seinen Ehrgeiz: „Philosophische Untersuchungen“, „Der Freygeist“, „Der Naturforscher“. Rasch ins Leben gerufen, rascher wieder aufgegeben. Und nun ein neuer Name für Berlin: „Das erste Blatt kam am Donnerstag heraus. Den Sonntag vorher wusste Herr Mylius noch nicht, wie es heißen sollte. Sie können sich nicht entschließen, wie Sie Ihr Blatt nennen wollen?, sagte der Herr K. zu ihm. Nennen Sie es den Wahrsager ... Dieser Einfall ward gebilligt, und in drei Stunden war das erste Stück fertig.“ Es ist Lessing, der das ausgeplaudert hat.

Nach einem halben Jahr ist das Blatt verboten, aber Mylius das Stadtgespräch von Berlin. Er beherrscht die Dramaturgie des Eklats. Wer ihn nicht besucht, bekommt hinterher wie der berühmte Gellert aus Leipzig zu lesen, er sei nur „in forma semipublica“ in Berlin gewesen. Einem wichtigeren Besucher läuft der Tausendsassa im Sommer 1750 selbst hinterher: Voltaire. Was Lessing nie geschafft hat, gelingt Mylius: Er darf Voltaire zu Diensten sein, auch als Übersetzer in Rechtsstreitigkeiten.

Bei Voltaire kann sich Mylius abschauen, wie man wirklich Skandal macht. Unbekümmert tritt der französische Gast in sämtliche Fettnäpfchen, die die Residenz bereitstellt. Am Ende ist sein Verhältnis zum König so zerrüttet, dass Friedrich eine Satire Voltaires auf den Akademiepräsidenten Moreau de Maupertuis verbrennen lässt. Und Mylius? Riskiert abermals den Konflikt mit dem König, indem er Voltaires Partei ergreift und spottet: „Dem kleinsten Teil der Stadt/war Moreaus Schimpf bekannt./Nun liest ihn alle Welt,/Seitdem man ihn verbrannt.“

Wenn die Politik zu heikel wird, kann man übers Wetter reden. „Physikalische Belustigungen“ heißt eine neue Zeitschrift, in der Mylius Wetterbeobachtungen publiziert; für 1752 überliefert er einen extrem gewittrigen Sommer. Er schreibt auch „Gedanken von erträglichen Kornpreisen“ nieder, singt das „Lob der Muttersprache“ und spottet über die „galante Folter der Schnürbrüste“.

Und dann, 1753, die große Verwandlung. Er will keinen Journalismus mehr, keine Rezensionen. Er will auf Expedition gehen, hinaus in die Welt, nach Amerika. Als Schirmherrn gewinnt er den Schweizer Albrecht von Haller (dessen frühe Gedichte er anonym verrissen hatte) und viele Sponsoren. Hübsche Summen kommen für das couragierte Unternehmen ein. Einiges davon bleibt gleich beim Berliner Schneider, wo Mylius sich für die große Tour ausstaffiert.

Aber der quicke Poet ist als Weltreisender nicht von der schnellen Sorte. Zur Wintersaison erkundet er London, setzt nicht nach Amerika über, sondern übersetzt Hogarth. Dann geht ihm das Geld aus, er wird krank, ein letzter Verzweiflungsbrief an seinen Gönner Haller kommt zu spät. Er stirbt elend, und es behalten jene Recht, die so etwas hatten kommen sehen und die Lessing beim Abschied von Mylius leichthin verspottet hatte: „Wohin, wohin treibt dich mit blutgen Sporen,/ Die Wißbegier, dich, ihren Held? Du eilst, o Mylius! im Auge feiger Toren, zur künftgen, nicht zur neuen Welt.“ Lessing revanchiert sich fürs frühe Berliner Quartier, indem er dem unglücklichen Freund sein erstes dickes Buch bindet: „Des Herrn Chr. Mylius Vermischte Schriften“. Erschienen vor 250 Jahren, bei Haude und Spener, in Berlin.

Der Autor, Voltaire- und Lessingspezialist, lebt in Hessen. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen „Die Leute vom Kurfürstendamm“ und „Deutschland, deine Berliner“.

Dieter Hildebrandt

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