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Kultur: Der Weg ist das Spiel

Das proletarische Kraftgenie der Defa: dem Schauspieler Erwin Geschonneck zum 100. Geburtstag

Ein Mann auf der endlosen Landstraße, pfeifend, weit ausschreitend, voller Zuversicht. Der Mann kommt aus Dresden und will nach Wittenberge. Zu Fuß, wie sonst im Frühjahr 1945? Er ist ganz allein, aber er füllt die Straße. In Wittenberge soll es noch ein paar Fässer Karbid geben – das wird gebraucht zum Schweißen in seiner kaputtgebombten Dresdner Zigarettenfabrik. Die Mission ist aussichtslos, aber zuversichtlicher als Kalle kann man nicht aussehen. Als läge das Leben vor ihm wie diese Landstraße. Als brauche er nur geradeaus zu gehen.

Die Defa besaß kein großes Talent für Komödien. Doch „Karbid und Sauerampfer“ (1963) von Frank Beyer mit Erwin Geschonneck in der Hauptrolle ist eine wunderbare Komödie. Das liegt an Erwin Geschonneck, Frank Beyer und am Rückweg: ein Mann mit sieben Fässern Karbid will zurück nach Dresden. Jetzt pfeift er nicht mehr.

Geschonneck geht es im Frühjahr 1945 ungefähr wie seinem Kalle im Film. Er braucht nur noch geradeaus zu gehen und er selbst werden – Erwin Geschonneck. Mag sein, er ist es schon. Hinter ihm liegen sechs Jahre Konzentrationslager. Eben war er noch an Bord der „Cap Arcona“, dem einstigen Flaggschiff der Hamburg-Südamerika-Linie. Am 3. Mai bombardierten die Briten den 28 000- Tonner, von 4000 KZ-Häftlingen überlebten 350.

Und wenn Erwin Geschonneck nur die Filme hätte, die er mit Frank Beyer drehte: Wenn er nur der Friseur Kowalski in der oscarnominierten Warschauer-Ghetto- Geschichte „Jakob der Lügner“ (1974) geworden wäre und der KZ-Häftling Krämer in „Nackt unter Wölfen“ (1963) – es würde reichen für ein Stück Defa-Unsterblichkeit. Ja, auch die gibt es.

Kann sein, er spielt immer nur sich selbst. Selbst-Darsteller zu sein, bezeichnet den niedrigsten, aber auch den höchsten Begriff des Schauspielers. Und niemand wird ein Star, der das nicht kann. Erwin Geschonneck ist einer. Er ist das proletarische Kraftgenie der Defa. Nein, die Straße ist nicht ganz das richtige Bild für eine statische Begabung wie ihn. Er ist ein Kerl wie ein Baum, unfällbar. Wann es Frühling wird und der Baum neue Blätter bekommt, bestimmt grundsätzlich er. Seine Wurzeln scheinen fast in die Erdmitte zu reichen, und mit dem Kopf berührt er den Himmel, manchmal. Baumartig eben, sehr bodenständig und sonnenhaft zugleich. Er hat nicht damit gerechnet, und hätte es doch ahnen können: Bäume werden alt. Erwin Geschonneck feiert heute seinen 100. Geburtstag.

Was spielt er, wenn er sich selbst spielt? Jahrhunderterfahrungen, seine eigenen. Proletarische Jahrhunderterfahrungen.

Der Flickschuster Otto Geschonneck und seine Frau, wohnhaft in einem „klitzekleinen Haus“ (Geschonneck) in Bartenstein, Ostpreußen, bekommen am 27. Dezember 1906 noch einen Sohn. Um die Gesundheit des Jungen sowie die Flickschusterei als Gewerbe steht es denkbar schlecht, auch deshalb zieht die Familie nach Berlin. In die Ackerstraße 6/7, Seitenflügel, urproletarisches Berlin, Prostitution allgegenwärtig. Hier wächst er auf, bald ohne Mutter, der alleinerziehende, alleinprügelnde Vater wird Nachtwächter. Ein Bild aus seiner Schulzeit zeigt den Jungen ohne Hemd unter der Schuljacke. Er besitzt keins.

Auf dem Koppelschloss seines Nachtwächtervaters steht „Ich dien’!“. Schwer zu sagen, wann Erwin Geschonneck beschließt, dass das nicht sein Lebensmotto wird. Er wird grundsätzlich Nicht-Dienende spielen. Bäume bücken sich nicht.

Im Schlussbild des ersten proletarischen Films, in Slatan Dudows „Kuhle Wampe“ von 1932 ist er noch einer von 4000 Statisten, daneben Hilfstischler, Hutmodell und Hausdiener. Jeden Morgen putzt er seinem Brotherrn die Stiefel – und beginnt doch bereits, die Baum- Konstitution anzunehmen. Das liegt am Arbeiter-Athletenbund Kreuzberg. Und dass er 1929 in die KPD eintritt, liegt vor allem am Arbeitersportverein „Fichte“, Abteilung Wasserwandern, der nicht nur Boote, sondern auch Köpfe auf Kurs bringen kann. Geschonneck liest Marx und Engels, Literatur für Nicht-Dienende. In Konrad Wolfs DDR-Uranbergbau-Aufbruchsfilm „Sonnensucher“ wird Geschonneck ein sozialistisches Glaubensbekenntnis sprechen. Dass es nicht als schwere Propagandaformel aus dem Film herausfällt, liegt an seiner Gabe des Unterspielens. An seiner Fähigkeit, noch das Zentralste beiläufig zu sagen.

Doch vorerst scheint alles zu Ende. 1933. Er ist bald 30 Jahre alt, höchste Zeit für einen Schauspieler, und er muss ins Exil. Kurz nach seiner Ankunft in Moskau im Dezember 1934 wird der Gebietssekretär von Leningrad Sergej Kirow ermordet, erstes Vorspiel zur Ära der Schauprozesse. Er sieht Stalin auf dem Roten Platz, und wieder überkommt ihn ein Gefühl von Heimat, von großer moralischer Einheit wie schon an der sowjetischen Grenze. Kein einzelner Stamm mehr sein, Wald werden! Er stellt einen Antrag auf Aufnahme in die KPdSU. Sie gründen ein deutsches Theater in Dneprpetrowsk später in Odessa, spielen Tschechow, Kleist, Friedrich Wolf und sowjetische Gegenwartsstücke. Da wird er aufgefordert, binnen zwei Tagen die Sowjetunion zu verlassen. Immer wieder, in Odessa wie in Dneprpetrowsk, waren Theatermitglieder verschwunden.

Eine ganze Zugfahrt lang zurück nach Prag denkt Erwin Geschonneck darüber nach, was geschehen ist. Er versteht es nicht. Was am 31. März 1939 an der tschechisch-polnischen Grenze geschieht, versteht er schon viel besser. Die SS verhaftet ihn. Die Koordinaten seines Weltbilds stimmen wieder. Es sieht nicht so aus, als ob er das Lager überlebt. Schon gar nicht an jenem eiskalten Wintertag 1940, als er beim überlangen Zählappell in Sachsenhausen die Nerven verliert und brüllt: „Nieder mit dem Faschismus! Es lebe die Kommunistische Partei Deutschlands!“ Er wird sofort bewusstlos geschlagen. Aber nicht von der SS, sondern von einem Mitgefangenen – und ist später beinahe dankbar dafür.

Selten wirkt ein grundsätzlicher Mensch so ungrundsätzlich wie Geschonneck in seinen Filmen. Das Ungrundsätzliche ist die Ausstrahlung des Menschlichen, es ist das Wissen um die Relativität der Dinge. Vielleicht hat er das alles nirgends so erfahren wie im KZ, vielleicht hat er sogar seinen hintergründigen, kargen Witz aus dem Lager. Das Lachen kommt aus demselben Wissen und ist manchmal nicht weit weg vom Galgen. Hätte Geschonneck sonst in Dachau „Die Blutnacht auf dem Schreckenstein oder Ritter Adolars Brautfahrt ...“ inszeniert? Das selbstgeschriebene Stück eines Häftlings ist wie sein Titel. Wenn er nicht Regie führt oder Hauptrollen spielt, ist Geschonneck Blockältester des Pfarrerblocks von Dachau. 200 unbotmäßige Geistliche unter seiner Aufsicht. Er diskutiert mit den Pfarrern und achtet ihren Glauben, der nicht der seine ist. Nur in einer Beziehung bleibt er immer grundsätzlich. Er prügelt nicht. Als der Lagerkommandant das von den Blockältesten verlangt, weigert er sich. Die Weigerung bringt ihn noch im Herbst 1944 nach Neuengamme, nun als Blockältester von 800 deutschen Kriminellen. Hier soll er henken und weigert sich wieder. Es folgt der Marsch zur Lübecker Bucht.

Und dann liegt die weite leere Straße vor Kalle-Erwin. Er ist fast 40 Jahre alt. Die Straße führt ihn über Ida Ehres Hamburger Kammerspiele direkt an Brechts Berliner Ensemble. Brecht erkennt Geschonnecks „proletarisches Genie“, die plebejische Weisheit seines Spiels. Die möchte er erziehen, möchte sie verbrechten. Doch bald entzieht sich das proletarische Genie, spielt lieber Großbauern (und kann auch das, wie später in Horst Seemanns Film „Levins Mühle“!). Brecht schreibt Bittbriefe, dann brüllt er sein proletarisches Genie an. Das brüllt zurück – und geht. Zum Film. Brecht schreibt wieder Bittbriefe.

Jedesmal, wenn ein Regisseur ihn oder andere anschreit, wird Geschonneck die Bühne oder den Drehort verlassen. Sechs Jahre hatte ihn die SS angebrüllt, das reicht, findet er, für ein ganzes Leben.

Mitte der Neunziger dreht Geschonneck seinen letzten Film. Die wunderbare Komödie „Matulla und Busch“ in der Regie seines Sohnes Matti. Der hatte als Kind nicht viel mehr von seinem Vater als den Namen, und Erwin Geschonneck wird mit Missfallen gesehen haben, wie sein Sohn fast direkt von der Moskauer Filmhochschule in den Westen zu Wolf Biermann ging. Ein wenig Angst hat der Regisseur doch vor seinem Darsteller. Aber der folgt noch dem leisesten Wink. Was für ein Schauspieler!, denkt der Sohn.

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