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Kultur: Der Welt den Mittelfinger

Ein Vierteljahrhundert Kaputtsein: „The Dirt“, ein furioses Buch über die Rockband Mötley Crüe

Den Ort, den sich Rockstars fürs Sich-daneben-Benehmen aussuchen, kann gar nicht gediegen genug sein. Während einer Europatournee verabredete sich die amerikanische Band Mötley Crüe in einem Londoner Luxusrestaurant mit einem Freund, der sie ihrem Idol Roger Taylor vorstellen wollte, dem Schlagzeuger von Queen. In dem Restaurant aß gelegentlich auch die Königin, man saß unter einer handgeschnitzten Eichendecke. „Nach und nach wurden wir satt und betrunken“, berichtet Bassist Nikki Sixx. „Als der Maitre sagte ,Der Nachtisch ist serviert‘, betrat ein Kellnerteam den Raum. Jeder von uns hatte seinen eigenen Servierer, der eine abgedeckte Silberplatte vor uns auf den Tisch setzte, und einer nach dem anderen hob den Deckel. Auf jeder Platte lagen sieben Linien Koks von echten Rockstar-Ausmaßen.“ Tapfer wurden die Portionen weggeschnupft. Anschließend pinkelte Sixx dem Queen-Veteran Taylor auf die Jacke.

Mötley Crüe gelten als skandalträchtigste Band aller Zeiten, sie sind die Inkarnation aller Rock’n’Roll-Klischees. Sie haben mehr als 40 Millionen Alben verkauft, zur Musikgeschichte aber nichts beigetragen. Ihre Mischung aus Glamrock und Heavy Metal wirkte von Anfang an modrig und vorgestrig, aber wichtiger war ohnehin das überkandidelte, an Horrorfilmen, Sado-Maso-Fantasien und Travestie orientierte Erscheinungsbild der Gruppe. Für Schlagzeilen in der Schundpresse waren Mötley Crüe immer gut. Sänger Vince Neil raste in seinem Sportwagen mit 1,7 Promille in ein anderes Auto, dabei starb der Beifahrer Razzle, Schlagzeuger von Hanoi Rocks. „Vorher hatte ich gesoffen, um mich zu amüsieren“, resümierte er später. „Aber nach dem Unfall begann ich zu trinken, um das Vergangene zu vergessen.“

Schlagzeuger Tommy Lee stieg durch seine Ehe mit der Kunstbusen-Schauspielerin Pamela Anderson zur Trash-Ikone auf. Erst kursierten Sexvideos, die aus dem Safe seiner Villa entwendet worden waren, dann schlug er seine Gattin zusammen und wurde dafür zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt. Zum Hofgang steckte man ihn auf richterliche Anordnung in einen Schutzkäfig. „Riesige Vergewaltigertypen bewarfen mich mit Dreck und brüllten: ,Du hast Schwein, dass wir dich nicht kriegen können.‘“ Im Gefängnis fand er zum Buddhismus und begann, Tai-Chi-Diagramme an die Wände zu zeichnen. „Ich lernte“, teilt er mit, „dass es für besseren Stressabbau Akupressurpunkte unter den Augen gab.“

Gegründet wurden Mötley Crüe vor einem Vierteljahrhundert, im Frühjahr 1981, in Los Angeles. Der Name ist eine Verballhornung von „Motley Crew“, wilder Haufen. Für die Umlaute entschieden sich die Musiker, weil „Löwenbräu“ ihr Lieblingsbier war. „The Dirt“ heißt – treffend – ein fulminantes Buch, das die Geschichte der Band erzählt. In Amerika war es ein Bestseller, in Deutschland erscheint jetzt eine Paperbackausgabe. Neil Strauss, Autor der „New York Times“ und des „Rolling Stone“, hat Interviews mit der Gruppe – komplettiert wird das Quartett von Gitarrist Mick Mars –, mit Managern und Musikbusinessleuten geführt und daraus eine Skandalchronik in langen Monolog-Erzählungen montiert. Es sind schillernde Innenansichten aus dem Showbizz-Babel, gerade weil die Erinnerungen voneinander abweichen, wirkt das Gesamtbild umso plastischer.

Mick Mars hatte ein Inserat in einem Lokalblättchen aufgegeben: „Lauter, wilder und aggressiver Gitarrist sucht Band.“ Grell geschminkt, mit zerfetzten T-Shirts, Nietengürteln und hochtoupierten Haaren sahen er und seine Mitstreiter aus wie Drag Queens. Auf die Frage eines Reporters, wo sie herkämen, antworteten sie: „vom Mars“.

Es war die Ära des New Wave, Heavy Metal, hieß es, sei tot. „Uns interessierte nichts als Vollstoff-Rock’n’-Roll, bei dem das Testosteron aus den Marshall- Verstärkern quoll, und wie viel Koks, Percolan, Quaaludes und Alkohol wir irgendwo schnorren konnten“, bekennt Nikki Sixx. Das Debüt „Too Fast For Love“, unter Punk-Bedingungen für 6000 Dollar in drei Tagen produziert, verkaufte sich über einhunderttausend Mal.

Mötley Crüe sind Modernisierungsverweiger, das machte sie unwiderstehlich. New Wave hing den Kids schon wieder zum Hals raus, im Radio lief der Weichspülerrock von Foreigner und Fleetwood Mac. Mötley Crüe setzten auf Härte und eine ausgeklügelte Bühnenshow. Sie ließen, inspiriert von Queen, ein dreistufiges Schlagzeugpodest bauen und posierten gitarrenschwingend auf und in beleuchteten Plexiglaskisten. Sänger Neil sägte Schaufensterpuppen den Kopf ab. Die Konzerte waren Ereignisse: „Entweder ging etwas kaputt“, so ein ehemaliger Manager, „oder irgendjemand kippte um“. Das fünfte Album „Dr. Feelgood“, das 1989 bei einem Major-Label herauskam, erreichte Platz 1 der US-Charts. Mötley Crüe waren Superstars.

Zu Open-Air-Auftritten vor zehntausenden Zuschauern wurde die Band im Hubschrauber eingeflogen. „Hier oben, mit einer Pulle Jack Daniels in der Linken, einer Tüte Pillen in der Rechten und einem blonden Kopf, der sich zwischen meinen Beinen auf und ab bewegte, fühlte ich mich wie der König der Welt“, prahlt Tommy Lee. Mötley Crüe schwebte Großes vor. Sie wollten Konzerte als Mischung aus Nazi-Parteitag und schwarzer Messe inszenieren, Ronald Reagan sollte als „Antichrist“ entlarvt werden. Doch immer wieder kamen die Drogen dazwischen, und die Gruppe nahm Platten auf, an deren Entstehung sie sich schon bald darauf nicht mehr erinnerte. Es gab Rauswürfe, Trennungen, Reunions-Tourneen. Die Show, der Irrsinn geht weiter. Am Dienstag haben Mötley Crüe einen Stern auf dem Walk of Fame in Hollywood erhalten, schräg gegenüber von einem Erotikmuseum.

Neil Strauss: Mötley Crüe – The Dirt, Heyne, München 2006, 463 Seiten, 13 €.

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