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Kultur: Der Widerspenstigen Lähmung

Heimat suchen, fremd bleiben: Andrea Štakas in Locarno preisgekrönter Erstling „Das Fräulein“

Heimat: Für Millionen von Migranten, die sich auf Dauer in einer fremden Gesellschaft einrichten, ist der Begriff eine Illusion. Das Herkunftsland, aus dem sie sich mitsamt ihren Wurzeln losgerissen haben, wird ihnen fremd – sie lassen die Verbindung verkümmern, oder sie träumen von einer Rückkehr für später, die ihnen doch längst unheimlich erscheint. Im Zielland wiederum kommen sie nie ganz an – nicht einmal, weil sie von der Mehrheitsgesellschaft abgelehnt würden, sondern weil das neue Zuhause ihnen selber restfremd bleibt, eine Luftwurzelheimat für immer.

Ruža (Mirjana Karanovik) und Mila (Ljubica Jovik), die Betriebskantinenchefin Ende vierzig und ihre verlässliche Angestellte kurz vorm Rentenalter, sind vor Jahrzehnten aus dem einstigen Jugoslawien nach Zürich gekommen; mehr als die Hälfte ihres Lebens haben sie in jener angenommenen Fremde verbracht. Ruža lebt längst eingezwängt in einer ganz auf die Askese der Arbeit zugeschnittenen Seelenuniform, legt ihr Geld beiseite, lebt entschieden allein und antwortet auch dann noch in – gebrochenem – Deutsch, wenn sie in jener Sprache angesprochen wird, die einmal Serbokroatisch hieß. Mila ist verheiratet, hat Freunde (aus der alten Heimat), hat Kinder, deren Heimat die Schweiz ist – und spart mit ihrem Mann auf ein Häuschen an der Adria. Aber was soll sie dort, eines Tages, fern von Kindern und Enkeln?

Und dann kommt Ana (Marija Škaricik) aus Sarajewo, Anfang zwanzig. Sie hat die Heimat im Blut und einen Krieg in den Knochen, sie trifft ein in dieser trostlosen Betriebskantine, als hätte dort alles auf sie gewartet, fängt an zu jobben, spricht mit den Kunden unbekümmert serbisch-kroatisch-bosnisch und bringt die versteinerte Welt der beiden älteren Frauen durcheinander – eine Tramperin auf widerspenstiger Fluchtsuche zu sich selbst. Als Ruža Geburtstag hat, die verschlossene Kantinenfrau Ruža, die alle nur „Fräulein“ rufen, richtet Ana ihr eine Überraschungsparty aus: bisschen Papierschlangenzeugs, reichlich Alkohol und ganz viel Musik aus dem fernen Zuhause – jener treibende, jagende, todtraurige, sich nie in der Tonika lösende Kolo-Volkstanz, bei dem die Menschenseelchen immer schneller für Augenblicke aus ihren Körpergefängnissen davonzuhüpfen scheinen. Und Ruža lässt sich, für eine erste Nacht, mitziehen: Irgendwann erschöpft sich auch der stärkste Widerstand, den jemand gegen sich selber auftürmen kann.

Nicht viel geschieht auf der Ereignisoberfläche in Andrea Štakas Erstlingsfilm „Das Fräulein“, der zuletzt in Locarno den Goldenen Leoparden gewonnen hat; und das ist auch gut so, denn was geschieht, hat schnell jenes gut gemeinte, gängelnde, seltsam beweisbedürftige Zuviel. Warum muss die selbstbewusst obdachlose Ana, die restnachts bei wechselnden Männern schläft und tagsüber Leben in die Kantine bringt, unbedingt dramatisch todgeweiht sein? Warum müssen die Protagonistinnen feinsäuberlich aus Serbien, aus Kroatien, aus Bosnien stammen? Da raschelt das Treatment, das Gedankenkonzept, Andrea Štakas Drehbuchpapier. Ungleich schlüssiger und offener erzählt die Kamera (Igor Martinovik) von der alltäglichen Bedrängtheit der Figuren: in Unschärfen, am liebsten in der Körpernähe, die die Wahrnehmung zugleich konzentriert und fragmentiert. Nichts verletzlicher als diese Leute, die sich so ausgepanzert zu haben scheinen.

Mirjana Karanovik, unvergessliches Gesicht der frühen Kusturica-Filme und frisch aus Jasmila Wbaniks „Grbavica – Esmas Geheimnis“ in Erinnerung, trägt den Film: eine ganz um Fassade bemühte Figur, die sich auf den beschwerlichen Weg zur eigenen Wärme macht. Marija Škaricik als Ana dagegen bringt ihn zum Tanzen. Leben – so gibt es die junge bosnischstämmige Schweizer Regisseurin zu verstehen – ist ein wildes Durchreisen, durch welche Heimat auch immer.

Central (OmU) und Eiszeit

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