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Erotischer Reiz. Die Terrakotta-Figur „Schlafender Jüngling“ von Andrea del Verrocchio.

©  SMB/Antje Voigt

„Der zweite Blick“ im Bode-Museum: Queer durch die Sammlung

Das Bode-Museum eröffnet frische Perspektive auf seine Dauerausstellung – und zeigt, wie vielfältig sexuelle Identitäten immer schon gewesen sind.

Die kleine Terrakotta eines schlafenden Jünglings (um 1485) von Verrocchio liegt genauso lasziv da wie die Bronze einer schlafenden Nymphe (ca. 1600) von Giambologna. Unweigerlich werden wir zu Voyeuren ihrer Nacktheit, die sich unserem Blick im Schlaf ganz ungestört darbietet. Geben die offen angewinkelten Schenkel des Jünglings die Sicht auf sein Geschlecht bereitwillig preis, liegt die Hand der Nymphe mit gespreizten Fingern zwischen ihren geöffneten Beinen, während ihr Kopf in der erhobenen Armbeuge ruht. In der Unschuld ihres Schlafes strahlen die wohlgeformten Körper den erotischen Reiz völliger Entspannung aus.

Was für ein gelungenes Ausstellungskonzept, das die altehrwürdigen Kunstschätze der Skulpturensammlung und des Museums für byzantinische Kunst einem zweiten hochaktuellen Blick aussetzt. „Spielarten der Liebe“ heißt das aufreizende rote Band, dem man in fünf thematischen Routen durch das Bode-Museum und den kostenlosen Online-Katalog folgen kann. An herausragenden Beispielen aus 1500 Jahren europäischer Kunst- und Kulturgeschichte lässt sich nicht nur wissenschaftlich, sondern auch lustvoll verfolgen, wie groß die Vielfalt sexueller Identitäten immer schon gewesen ist, lange bevor sie auf die Abkürzungsformel LGBTQI* gebracht wurde.

Auf der ersten Route „In Liebe und Krieg“ begegnet uns der muskulöse Kriegsgott Mars (um 1580) von Giambologna, dessen Schwert und Schild zum Symbol des männlichen Geschlechts geworden ist. Dass der Muskelmann jedoch (wie Apollo) mindestens so viele männliche wie weibliche Liebhaber hatte, belegt, dass in der Antike kriegerisches Heldentum und Bisexualität kein Widerspruch waren. Die zweite Route „Männliche Künstler und Homosexualität“ unterzieht vor allem Werke der italienischen Renaissance, die bekanntlich in Florenz ihren Ursprung hat, einem zweiten Blick.

Dass „Florenzer“ in Deutschland Synonym für homosexuelle Männer war, mag mit der damaligen Subkultur zusammenhängen, aber auch mit den herausragenden Künstlern der Stadt, die mehr oder weniger offen zur Homosexualität neigten. Je nachdem wird der androgyne Typus bevorzugt wie bei Donatello und Leonardo oder eher der ausgesprochen männliche Idealkörper wie bei Michelangelo. Nach seiner Zeichnung ist die spiralförmig ineinander gedrehte Samson-Gruppe (1601- 15) entstanden, die in ihrer erotischen Aufladung weniger an einen Ringkampf als an eine sexuelle Handlung denken lässt.

Seltener ist die Darstellung weiblicher Homosexualität

Den Gipfel an erotischer Ausstrahlung markiert jedoch die Terrakottareplik des Barberinischen Faun (1799) von Vincenco Pancetti, der an der Restaurierung der berühmten griechischen Marmorskulpturen beteiligt war. Lasziv räkelt sich der von Trunkenheit übermannte Faun, um seine aufreizende Nacktheit für Bewunderer jederlei Geschlechts zur Schau zu stellen. Trotz dieser zunehmenden Freizügigkeit der Renaissance gegenüber christlichen Moralvorstellungen bleibt es ein zu erforschendes Tabu, welche erheblichen Auswirkungen das weitgehende Verbot homosexueller Praktiken auf die Künstler, ihre Kunst und Auftraggeber hatte.

So beschäftigt sich die dritte Route denn auch mit männlichen Sammlern, die bekanntermaßen homosexuell waren. Mit Baron Philipp von Stosch, dessen berühmte Sammlung antiker Gemmen von Winckelmann katalogisiert und von Friedrich II. erworben wurde, sind prominente Beispiele dieses Sammlertypus’ skulptural vertreten. Wieder bildet die Antike in ihrer größeren Toleranz gegenüber der Homosexualität das Ideal für das aufgeklärte Sammeln homoerotischer Kunstwerke.

Viel seltener ist dagegen die Darstellung weiblicher Homosexualität, der sich die vierte Route unter dem zunächst verblüffenden Titel „Heldinnen der Tugend“ widmet. Gemeint ist, dass es für lesbische Frauen kaum eine Alternative zur Heterosexualität als die Keuschheit oder gar das Martyrium zur Verteidigung ihrer Jungfräulichkeit gab. Eine wohltuende Ausnahme selbstbestimmter Weiblichkeit stellt die Jagdgöttin Diana dar, die Ovid zufolge den voyeuristischen Akteon in einen Hirsch verwandelte. In der lebensgroßen Marmorskulptur Bernardino Camettis ist sie mit ihrem durchtrainierten Körper deutlich als Jägerin, nicht als Gejagte zu sehen. Umgeben von ihren Nymphen beim Baden lässt sich das Relief von Guiseppe Mazza als seltener Fall lesbischer Intimität deuten.

Die Sammlung zu durchqueeren ist zeitgemäß

Auch für die Grenzüberschreitungen in der Geschlechtszugehörigkeit, die 2017 vom Bundesverfassungsgericht anerkannt worden sind, finden sich in Route 5 interessante Beispiele wie die Heilige Kümmernis am Kreuz (um 1520), die sich ihrer Zwangsheirat entzog, indem sie Gott um einen Bart anflehte. Als der ihr wuchs, wurde sie von ihrem Verlobten verstoßen und erlitt das Martyrium am Kreuz, das sonst nur Männern vorbehalten war.

[Bode-Museum, Museumsinsel, Di–So 10 18 Uhr, Do bis 20 Uhr]

Die eigene Sammlung noch einmal zu durchqueeren unter dem Blickwinkel vielfältiger Geschlechteridentitäten ist zeitgemäß und im Trend: Spezialmuseen, aber auch British und Metropolitain Museum oder Prado haben bereits solche Online-Angebote. Welches die nächste Fragestellung in der neuen Ausstellungsreihe „Der zweite Blick“ sein wird – der erste Teil entstand in Kooperation mit dem Schwulen Museum –, bleibt spannend. In jedem Fall sind es unkonventionelle Konzepte, wie schon bei der „Unvergleichlich“-Ausstellung afrikanischer Kunst, die die eigene Sammlung neu in den Blick gesellschaftsrelevanter Fragen nehmen, um sie einem neuen Publikum zu öffnen.

Wie neu das Publikum sein kann, war bei der Auftaktveranstaltung hautnah zu erleben, bei der das Kollektiv Iconic House of Saint Laurent eine tänzerische Performance im ganzen Haus aufführte. Als würden Skulpturen zum Leben erweckt, bewegten sich die 20 Pioniere der Ballroom-Kultur in bewegten Bildern und skulpturalen Posen queer durch die Sammlung und heizten dem Publikum ein. Aber auch ohne die queere Aktivierung der Performer lohnt sich dieser zweite Blick.

Dorothea Zwirner

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