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Kultur: Desperados in Dönerland

Er hätte besser seine Brille abgenommen, doch der Schwätzer war schneller. Ein Berlin-Western / Von Claudius Hagemeister

Am Tresen lungerten der Schwätzer und sein Kumpel, ein Lächler, und verpesteten die Luft. Die beiden waren ihm schon wiederholt unangenehm aufgefallen. Ein Schwätzer und ein Lächler. Der Desperado wusste nicht, was er schlimmer finden sollte. Er wollte die Kneipe gerade verlassen, als eine Frau eintrat, wegen der er zu bleiben beschloss.

Sie war ernst und schön, und der Desperado verliebte sich in sie. Sie trug einen sowjetischen Militäroverall, auf dessen Rückseite ein springender Tiger gebügelt war. Als sie ihn auszog, kam darunter ein schwarzes Kostüm zum Vorschein. Um den schwarzen Hemdblusenkragen trug sie eine Silberkette, an der ein silbernes Hufeisen baumelte.

„Du bist ja wie ein Überraschungsei!“, kommentierte der Schwätzer die Verwandlung der Tigerdame, und der Lächler feixte. Sie schien die beiden ebenso penetrant zu finden wie der Desperado, jedenfalls erwiderte sie nichts und vertiefte sich in die Getränkekarte. Ihr Bedarf an Bekanntschaft war wohl gedeckt, mutmaßte der Desperado. Undenkbar, sie jetzt noch anzusprechen.

Am nächsten Morgen traf er die beiden Schurken an der Imbissbude wieder, an der er, der Desperado, stets frühstückte. Der Desperado bestellte sich einen Kaffee und wandte sich dann an den Schwätzer: „Du redest zu viel.“

Der Schwätzer schwieg für einen Moment, und das Grinsen im Gesicht des Lächlers erlosch. Der Desperado blickte in den morgendlichen Himmel, der durch seine Sonnenbrille betrachtet petrolblau zu sein schien, und dachte an die alten Pioniere in der Wildnis, die erforderlichenfalls mit dem Fahrtenmesser Fleisch aus ihrer Wade schnitten, um nach einem Schlangenbiss die Ausbreitung des Gifts im Blutkreislauf zu unterbinden. Die gekappten Adern knüpften sie als Fransen an die Krempen ihrer Hüte.

„Schätze, du hast Ärger am Arsch“, raunte der Betreiber der Imbissbude, reichte dem Desperado einen Plastikbecher Kaffee und ließ dann die Jalousie seines Wagens herunterrasseln. Der Schwätzer fand seine Sprache wieder: „Was hast du gesagt? Was bildest du dir eigentlich ein? Wer bist du überhaupt?“

„Ich bin der Desperado mit dem Backentaschenbranding.“

„Ach nee. Na, dann zeig doch mal dein Backentaschenbranding!“

„Ich bin doch hier nicht beim Arzt!“

Erneut schwieg der Schwätzer für einen Moment.

„Alter, du zeigst uns jetzt dein Backentaschenbranding!“, forderte er dann drohend, und der Lächler versuchte gefährlich zu lächeln. „Alter, ich zeig euch mein Backentaschenbranding nicht!“

„Nimm die Brille ab!“

Er hätte, dachte er rückblickend, die Brille abnehmen sollen, dann wäre sie jetzt noch heil. Die alte hatte ihm besser gefallen als das Modell, das er sich als Ersatz zulegen musste: Ein schwarzes RayBan-Imitat aus instabilem Plastik, das ein Weißrusse am Straßenrand in hoher Stückzahl und zum Schleuderpreis anbot. Ein Aufkleber auf dem linken Glas versprach UV-Schutz.

Er brauchte die Brille. Sie hielt seine Mütze, die ihm zu groß war, davon ab, über die Augen zu rutschen. Zudem blendete die Sonne unerträglich.

Später, in der Prärie, prügelte der Desperado auf ein Männchen aus märkischem Matsch ein, das er zu diesem Zweck geknetet hatte, und stellte sich vor, es sei der Schwätzer. Der Kopf des klammen Doubles fiel herunter, und aus dem Hals sprudelte Blut. Der Desperado verformte die sterblichen Überreste zu einem breiigen Wulst.

Er hatte, damit sein Pony grasen konnte, einen großen Teil der Prärie von Sand und Schutt freigeschaufelt. Den Aushub hatte er zu einer Half Pipe weiterverarbeitet, auf der er Skater mit All-Terrain-Boards gegen Gebühr trainieren ließ. Alle paar Stunden stopfte er die Spurrillen mit zähen Matschwulsten, die in der Sommersonne augenblicklich zu stabilen Flicken aushärteten. „Danke, Mann!“, sagte einer der Skater, nachdem der Desperado das Männchen in die Bahn gewalkt hatte, und stürzte sich in den Abgrund, der ihn gleich darauf wieder ausspuckte und in diesen übertrieben blauen Himmel schleuderte.

Der Desperado grub den Sattel aus kniehohem Unkraut. Er hatte einen Entschluss gefasst: Er würde mit dem Schwätzer abrechnen und die Tigerdame erobern, und er wollte nicht ruhen, bevor er die beiden gefunden hätte. Anschließend, so plante er, wenn der Schwätzer im Grab und die Tigerdame in seinen Armen lag, würde er sich niederlassen, ein Haus bauen und das Pony einer Rossschlächterei überantworten. Der Desperado ritt.

Unterwegs erinnerte er sich daran, dass er schon einmal verliebt gewesen war: Marie war der Name seiner letzten Flamme, die ihn wegen eines Hilfssheriffs verlassen hatte. In der Folge hatte sich sein Herz in einen polymetallischen Knollen verwandelt, wie sie ansonsten nur auf dem Grund der Tiefsee vorzufinden sind. Im Laufe der Jahre war der Brocken in der Brust korrodiert, und beim Seufzen schnitten die scharfen Kanten Kerben in die Lungenflügel. Gegen Mittag bekam er Hunger und beschloss, den Imbiss aufzusuchen. Er sah sie schon von weitem. Sie stand an einem der Stehtische und stocherte mit der Gabel auf einem Pappteller herum. Die Tigerdame. Er besorgte sich etwas zu essen und trat dann mit klirrenden Sporen an sie heran.

„Hei!“, sagte er und streckte die Hand aus. „Ich bin der Desperado mit dem Backentaschenbranding.“

„Okay“, antwortete sie, ohne von ihren Röstzwiebeln aufzublicken. Er zog die Hand unverrichteter Dinge zurück und kümmerte sich um seine Bohnen.

Nach dem Essen zückte sie eine Packung Zigaretten aus einer Tasche ihres Overalls, zündete sich eine an und hielt ihm die Packung hin. Der Desperado griff zu. Sie rauchten. „Danke für das Gespräch!“, sagte sie abschließend, während sie die Kippe auf die märkische Steppe schnippte, und ging.

Claudius Hagemeister, geboren 1968, schreibt Kurzprosa und Computerspiele. Zuletzt erschienen „Tanne & Quadrat“ (Morpheo) sowie das aufblasbare Badewannenbuch Berlinschwimmer (Edition Sutstein).

Iris Czak, geboren 1970, arbeitet in Berlin als Fotografin und Locationscout. Ihre im Cinemascope-Format fotografierten Bilder aus der Berliner Prärie sollen 2006 als Buch erscheinen.

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