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Kultur: Dessauer Bauhaus: "Peking, Shanghai, Shenzen" als Vorhut des 21. Jahrhunderts

Eine Attraktion der derzeitigen Architekturbiennale in Venedig ist die gigantische Videoprojektion, die über 280 Meter Länge Alltagsszenen aus den Megastädten dieser Erde zeigt. "Mega" ist alles an diesen Zusammenballungen, die Zahl der Einwohner, die Verkehrsdichte, der Abfall; zunehmend auch die Anzahl und Höhe ihrer Hochhäuser.

Eine Attraktion der derzeitigen Architekturbiennale in Venedig ist die gigantische Videoprojektion, die über 280 Meter Länge Alltagsszenen aus den Megastädten dieser Erde zeigt. "Mega" ist alles an diesen Zusammenballungen, die Zahl der Einwohner, die Verkehrsdichte, der Abfall; zunehmend auch die Anzahl und Höhe ihrer Hochhäuser. Den "Weltrekord" im Rennen um das höchste Haus haben die Vereinigten Staaten bereits an eine asiatische Metropole abgeben müssen. In Kürze wird der begehrte Titel nach Shenzen wandern.

Shenzen? Den Namen dieser chinesischen Stadt konnte man in den zurückliegenden Jahren immer häufiger lesen. Als Stadt gibt es Shenzen seit gerade einmal zwanzig Jahren - und hat an Einwohnerzahl beispielsweise Berlin schon hinter sich gelassen. Als "Sonderwirtschaftszone" auf dem chinesischen Festland gegenüber von Hongkong gegründet, spiegelt Shenzen die Dynamik der staatskommunistisch-privatkapitalistischen Mischwirtschaft Chinas, die nicht zuletzt die rasante Verstädterung des Landes antreibt. Bereits 30 Prozent der Bevölkerung - das sind, man muss sich solche Zahlen vor Augen führen, 400 Millionen Menschen - leben in Großstädten, unter denen Peking und Shanghai, die beiden so grundlegend verschiedenen Metropolen des Riesenreiches, mit 12,6 respektive 14,5 Millionen Einwohnern an der Spitze liegen.

"Peking, Shanghai, Shenzen. Städte des 21. Jahrhunderts" ist die Ausstellung überschrieben, mit der das Bauhaus Dessau zurzeit seine Hinwendung zu globalen Fragen eindrucksvoll dokumentiert. Morgen, am 21. Juli, wird zudem ein zweitägiger Kongress "Cities of the 21st Century" an dieser Ursprungsstätte der klassischen Moderne in Architektur und Gestaltung eröffnet. Diese gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung organisierte Konferenz soll über die chinesische Urbanisierung hinaus den Blick auf die weltweite Entwicklung richten und gibt Gelegenheit, Stadtplaner insbesondere aus China, Indien und Brasilien zu hören.

Vor allem aber ist die Ausstellung in Buchform nachzulesen. Band 7 der Edition Bauhaus dürfte sich als unentbehrliches Handbuch zum Thema erweisen: Auf 600 Seiten stellt er kaleidoskopartig all die Informationen bereit, die zum Verständnis des atemberaubenden Stadtwachstums vonnöten sind, aber auch Impressionen fotografischer und literarischer Art, die zumindest eine Ahnung vom alltäglichen Leben und Treiben ermöglichen.

Aus der europäischen Ferne ist allenfalls der Höhenrausch einer explosionsartigen Bautätigkeit wahrzunehmen. 420 Meter, 460 Meter, das sind die derzeitigen Markierungen auf der nach oben offenen Messlatte. So hoch sind in Pudong, dem neuen Stadtteil von Shanghai, der Jin Mao-Turm und das zuküftige "Shanghai-Weltfinanzzentrum" - und werden übertroffen vom benachbarten Fernsehturm, dessen Antennenspitze es auf 468 Meter bringt. Den kraftvollen Entwurf lieferte das ortsansässige "East China Architecture Design Institute", während die beiden Rekordhochhäuser von US-Großbüros stammen. Geradezu schockierend ist die Anzahl der Bauten. So sind in der boomtown Shenzen nicht weniger als 3000 Hochhäuser hochgezogen worden, und nur die wichtigsten haben dabei jene Gestaltung erfahren, die in Europa als Architektur gilt.

Aber um geschmäcklerische Stilkritik geht es der Dessauer Ausstellung nicht. Sie liegt genau im Trend der Annäherung an außereuropäische Lebenswelten, die vor einem Jahrzehnt auf dem Gebiet der bildenden Kunst begonnen hat und sich seit der "documenta X" von 1997 mit Entschiedenheit den Fragen der Urbanisierung zuwendet. In Kassel hatte der niederländische Architekturvordenker Rem Koolhaas seine verwirrenden Statistiken aus den Städten im Perlflussdelta, darunter Hongkong und Shenzen, vorgestellt. Allein schon ihre Zahlen machten schwindlig. Mit ihnen ließ sich empirisch unterfüttern, was ein Blick auf die von Künstlerfotografen wie Thomas Struth mitgebrachten Stadtansichten der neunziger Jahre bereits ahnen ließ: Dass die schiere Bautätigkeit in diesen Stadtwucherungen um ein Vielfaches über dem liegt, was beispielsweise an Berlins Potsdamer Platz zur "größten Baustelle Europas" hochgejubelt wurde. Die Zeit solcher Nabelschau ist vorbei. Immerhin gab es in Berlin bereits im vergangenen Jahr eine bilaterale Tagung zur chinesischen Stadt, deren knappe und konzise Beiträge jetzt in einer dreisprachigen Publikation vorliegen.

Nicht allein das ungezügelte Stadtwachstum verwundert, sondern ebenso, dass es sich in China ereignet. Die chinesische Kultur wies, eingedenk ihrer 5000-jährigen Tradition, bislang ein starkes Beharrungsvermögen auf; die Wahl Pekings als Hauptstadt der Volksrepublik beispielsweise suchte unmittelbar an die enorme symbolische Bedeutung der alten Kaiserstadt anzuknüpfen. Jede Veränderung im Zentrum Pekings stellt mithin einen Eingriff von weit über die Stadtgestaltung hinaus reichender Wirkung dar. Der Protest, der sich derzeit gegen das Neubauvorhaben eines Opernhauses durch den Franzosen Paul Andreu richtet, dürfte nicht zuletzt in dieser rituellen Rolle der Stadt begründet sein. Gleichwohl machen die Veränderungen vor der Hauptstadt nicht Halt, erstrecken sich aber stärker auf die Flächenausdehnung als auf den Wettstreit ums höchste Gebäude. An dem wiederum nimmt Shanghai als alte Handelsmetropole mit seinem neuen und von keinerlei Regularien gezähmten Stadtteil Pudong höchst aggressiv teil.

Die Entwürfe der chinesischen Architekturbüros sind meist auf instant-Bauten von begrenzter Lebensdauer gerichtet. Für die verdrängte kulturelle Erinnerung sind in Shenzen Themenparks zuständig: Hier können Dörfer der chinesischen Provinzen, aber auch Kölner Dom, Eiffelturm und ganz Manhattan im Modell bestaunt werden.

Die Kehrseite aller Bauwut heißt Entwurzelung. Das traditionelle, ein- oder zweistöckige Wohhaus mit kleinem Hof ist dem Abriss geweiht. Wohin mit den lästigen Bewohnern? Dazu hält der dicke Bauhaus-Reader einen wunderbaren Text der Pekinger Autorin Zhou Jieru bereit. Herr Lin will an seinem Häuschen - mit "luxuriösen" 50 Quadratmetern Wohnfläche, aber wie alle Altbauten ohne Toilette - festhalten, während die anderen Bewohner des Viertels entnervt aufgeben und sich in Trabantensiedlungen vertreiben lassen ...

Man muss diese herrlich groteske Erzählung lesen, um die Bilder vom rekordträchtigen Stadtwachstum in ihrer ganzen Dimension verstehen zu lernen. Das Riesenreich der Mitte ist stärker denn je im Aufbruch.

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