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Kultur: Deutsche Doppelleben

Moritz Schuller über den Fall Kurras und die Dialektik der Geschichte

Plutarch schrieb eine ganze Reihe von „parallelen Lebensbeschreibungen“, in denen er einen herausragenden Römer einem herausragenden Griechen gegenüberstellte. Alexander den Großen bringt er in einer solchen Doppelbiografie mit Caesar zusammen oder auch Demosthenes mit Cicero. Es war ein großes dialektisches Vorhaben. Vermutlich käme man auch im manichäischen Deutschland, in dem alles immer nur die anderen waren, weiter, wenn man anfinge, beispielhafte deutsche Leben so nebeneinanderzustellen. Denn das Grundmuster der Plutarch’schen Form – Wir oder die – dominiert noch immer jede große Debatte in diesem Land: Demokraten oder Nazis, Ostler oder Westler, 68er oder Reaktionäre. Dazwischen leben nur die Renegaten, aber die sind ja die Schlimmsten.

Die ungeschriebene Doppelvita der Stunde ist die von Karl-Heinz Kurras und Günter Grass. Die fast gleich alten Männer verbindet, dass sie in erstaunlicher Weise anders waren, als man lange dachte, als lange denkbar war. Der linke Schriftsteller war SS-Mann, der Polizist des bürgerlichen Systems war SED-Mitglied. Beide gehören biografisch plötzlich in beide deutsche Lager. Ihr Leben überlagert die Ideologie, und so verkörpern sie beide jeweils ein deutsches Doppelleben, das es eigentlich nicht geben konnte.

Und deshalb auch nicht gibt: Die Polizeigewerkschaft, die Kurras nun rauswerfen will, reduziert den langjährigen West-Berliner Polizisten schlicht auf den Stasi-IM, und 68er wie Christian Semler spielen die Bedeutung der Kurras-Entlarvung herunter, weil „das Gros der linken Studenten sehr kritisch war gegenüber der DDR und der SED“. Es muss offenbar Ordnung herrschen, und wenn Kurras kein rechtes Schwein war, dann war er eben ein stalinistisches Schwein. Semler hat gut reden, er war damals ja auch Maoist. Das Aufklärerische, das die Fälle Kurras und Grass beinhalten, nämlich die Uneindeutigkeit der Geschichte, darf es nicht geben. Die Fronten schließen sich, damit diese Erschütterung der Vergangenheit nicht zu spüren ist. Natürlich diskreditiert ein Stasi-IM Kurras nicht jeden einzelnen Studenten, aber zu denken, dass im linken, SEW-durchtränkten West-Berlin jemand wie Kurras eine Ausnahme war, ist absurd.

Dass in diesen Debatten das eigene Leben, die eigene Biografie, die man sich nicht nehmen lassen will, ins Feld geführt wird, gibt Plutarch recht: Als Historiker kann man solches Denken kaum fassen, nur als Biograf. Dass gleichzeitig die, die diese Leben gelebt haben, nur wenig zur Aufklärung beitragen können, zeigen nicht nur Grass und Kurras. Sie wollen schließlich alle immer auf der guten Seite gestanden haben. Dabei hielte der Fall Kurras – und mehr noch der Fall Grass – die interessante, die sogar versöhnliche Erkenntnis bereit, dass es nicht leicht ist, ein ideologisch eindeutiges Leben in Deutschland zu leben.

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