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Kofferkind. Szene aus Neuverfilmung von Bruno Apitz' Roman "Nackt unter Wölfen".

© MDR/UFA FICTION

Deutsche Literatur 1945: Lesen nach Hitler

Es gab bald zwei neue Staaten, aber keine neuen Leser und kaum neue Autoren. Christian Adam dementiert eine Stunde null der deutschen Literatur nach Kriegsende 1945.

Erst ist es fünf vor zwölf, dann schlägt es Mitternacht. Doch schon umrundet der Zeiger die erste Stunde des neuen Tags. Gibt es tatsächlich eine ganze „Stunde null“? Christian Adam, Leiter des Fachbereichs Publikationen im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam, hält sie zumindest auf die deutsche Nachkriegsliteratur bezogen für eine Illusion. „Der Traum vom Jahre null“, wie er mit einem Zitat von Hans Mayer seine Studie über „Autoren, Bestseller, Leser“ und die „Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945“ nennt, setzt sein Buch „Lesen unter Hitler“ (2010) fort.

Das für den Büchermarkt und seine staatlichen Rahmenbedingungen treffende Wort „Neuordnung“ verdeckt allerdings die einfache Wahrheit, dass es in Deutschland nach dem Besatzungsregime zwar zwei neue deutsche Staaten, aber keine neuen Leser und noch kaum neue Autoren gab. Die Legende vom Jahr null widerlegt selbst der von Adam merkwürdigerweise ungenannte Wolfgang Weyrauch, Befürworter eines radikalen „Kahlschlags“.

Im Nachwort zu seiner ersten Nachkriegsanthologie bezog sich Weyrauch ausdrücklich auf eine seiner zwei während der NS-Jahre veröffentlichten Anthologien: „1940. Junge deutsche Prosa“, die seine „vorliegende Sammlung vorbereitet“ habe. Tatsächlich las man dort Autoren wie Albrecht Goes, Martin Kessel und Luise Rinser, und in einer Anthologie von 1941 („Das Berlin-Buch“, A.H. Payne Verlag, 1941) auch Wolfgang Goetz, Hedwig Rohde, August Scholtis und Erik Reger, den Romancier und Gründer des Tagesspiegel. Sie überstanden Hitlers Jahre ohne Makel, Albrecht Goes und Luise Rinser wurden sogar Erfolgsautoren, die in Adams Revue Erwähnung verdient hätten.

Es geht um die Longseller in der Unterhaltung

Das politische Vorleben namhafter Autoren der Nachkriegsliteratur kann man inzwischen in Sarkowicz/Mentzers Lexikon „Literatur in Nazi-Deutschland“" nachschlagen. Adams spezieller Zugriff gilt aber gar nicht den Autoren der „kanonisierten Höhenkammliteratur“, sondern den Long- und Megasellern der Unterhaltungs- und Sachliteratur, deren Autoren und Verleger nie von einer „Stunde null“ geträumt hatten, sondern schon wieder auf ihre Stunde warteten. Die kam in der Bundesrepublik mit der von den Alliierten blockierten Rückkehr der Altverleger mit ihrer Backlist von Erfolgsbüchern und -autoren vor 1945.

Dass sich darunter auch Kriegsprofiteure wie Bertelsmann oder der Berliner Lothar Blanvalet und Mitläufer aller Couleur (mehr- oder „minderbelastete“ Nazis, ehemalige PK-Leute und Kriegsberichterstatter) befanden, interessierte nach erfolgter Entnazifizierung niemanden mehr. Ernst von Salomon, einst Mittäter der Rathenau-Mörder, Erfolgsautor, Mitglied und unsicherer Kantonist der Nazipartei, konnte sich 1951 mit seinem Roman „Der Fragebogen“ sogar leisten, die Entnazifierungsverfahren lächerlich zu machen. Er erreichte zehn Auflagen und ein halbes Dutzend Übersetzungen.

Doch auch im gelenkten Verlagswesen der DDR gab es Nischen für die Wiederkehr von Erfolgsautoren der Nazizeit. Prominenteste Beispiele waren die Heimatautoren Benno Voelkner und Ehm Welk, dessen Roman „Die Heiden von Kummerow“ 1967 sogar in einer Gemeinschaftsproduktion von DDR und Bundesrepublik verfilmt wurde. Schwerer tat sich die DDR mit Kriegsromanen, mit denen in der Bundesrepublik Autoren wie Dwinger, Konsalik und Hans Hellmuth Kirst reüssierten. Ihr Hardcore-Realismus, der deutsche Kriegsverbrechen gern verschwieg und verdrängte, vertrug sich schlecht mit verordnetem Antifaschismus und Rücksichtnahme auf die sowjetischen „Freunde“.

Beides zu vereinen gelang dort noch am ehesten mit KZ-Romanen, in denen es eine klare Trennung von Gut und Böse gab wie in Bruno Apitz’ „Nackt unter Wölfen“ und Anna Seghers’ Exil-Klassiker „Das siebte Kreuz“, den einzigen Welterfolgen der DDR-Literatur. Gratwanderungen mit realistischen Frontromanen unternahmen immerhin jüngere Kriegsteilnehmer wie Harry Thürk („Die Stunde der toten Augen“), Dieter Noll („Die Abenteuer des Werner Holt“) und – von Adam übersehen – Klaus Poche mit seinem erstaunlichen Antikriegsroman „Der Zug hält nicht im Wartesaal“. Im Militärverlag der DDR (!) konnte er nur erscheinen, weil er ausnahmsweise nicht an der Ost-, sondern an der Westfront spielt.

Eine Bestsellerliste mit 400 Titeln hat er selbst ermittelt

Adams Darstellung stützt sich auf eine von ihm selbst ermittelte Bestsellerliste von 400 Titeln, von denen er in seinem Buch drei Dutzend vorstellt, als Auflagenmillionäre angeführt von Hugo Hartungs Roman „Ich denke oft an Piroschka“ und Aloys Schenzingers (einst Verfasser des „Hitlerjungen Quex“) Sachbuch-Longseller „Anilin“ von anno 1937. Dass Hartungs Roman als Beispiel für den Eskapismus der bundesdeutschen Unterhaltungsliteratur herhalten muss, ist allerdings nicht ganz fair, denn der Autor hatte mit der höchst politischen Satire „Wir Wunderkinder“ einen unwesentlich geringeren Lesererfolg.

Leider enthält uns Adam seine vollständige Liste vor, sodass offen bleibt, warum er auf weitere erhellende Beispiele verzichtet: etwa Gerd Gaiser, Luise Rinser, Willi Heinrich oder Hans Gustl Kernmayer mit seiner Ehefrau Marie-Louise Fischer, zwei Auflagenkönige der Regenbogenpresse.

Fischer erreichte mit über 100, zum Teil gemeinsam verfassten Romanen und Sachbüchern eine deutsche Auflage von 70 Millionen und Übersetzungen in 23 Sprachen. Kernmayer hatte nach 1945 zunächst als Auftragsschreiber für Goebbels und Propagandist des „Anschlusses“ in seiner Heimat Österreich Publikationsverbot und stand in der SBZ auf der Liste auszusondernder Literatur, bevor er im Westen zu Bestsellerehren gelangte.

Schonung durch Nichterwähnen genießt bei Adam auch Ina Seidel, der ihre treuen Leser selbst ein Führergeburtstagsgedicht verziehen, für das sie Hitler auf seine „Gottbegnadetenliste“ setzte. Dort stand auch der Dichter Hans Carossa, der nie aus deutschen Schul- und Lesebüchern verschwand. Dem Fall Ernst Jünger tritt Adam gar nicht erst näher, obwohl auch der Autor der „Stahlgewitter“ in der Bundesrepublik wieder zu Ehre und Auflage kam. In der DDR durfte er, trotz seiner Wertschätzung durch Stephan Hermlin, als vermeintlicher „Faschist“ nicht gedruckt werden.

Solche Blindstellen sind dennoch kein Einwand gegen Adams deutsche Literatur- und Mentalitätsgeschichte. Sie belegt eine Kontinuität der Lesebedürfnisse und verbreiteten Massenliteratur über das vermeintliche „Jahr null“ und die deutsche Teilung hinaus. Schon Goebbels hatte ja „seit Kriegsbeginn eine vermeintlich ideologiefreie Unterhaltungsliteratur“ propagiert, die auch nach 1945 gefragt blieb.

Im Sachbuch herrschte eine ähnlich fatale Kontinuität

Gleiches galt für das Genre populärer Sachbücher, das sich ebenfalls „hoch anschlussfähig“ (Adam) zeigte; mit bewährten und neuen Autoren von Hans Hass bis C. W. Ceram und Werner Keller. Adam sieht in ihnen eine „Flucht vor der jüngsten Vergangenheit“ in die Welt der Wissenschaft und ferne Zeitalter der Vergangenheit und Zukunft. Und selbst in den Büchern, die sich der jüngsten Kriegsvergangenheit stellten, entdeckt er „Vermeidungsstrategien, die die Verantwortung des Einzelnen minimieren und häufig die Deutschen selbst in erster Linie als Opfer darstellen.“

Ausnahmen wie der erste Kriegsroman (und erste gesamtdeutsche Bestseller) 1945, Theodor Plieviers „Stalingrad“, und „Am grünen Strand der Spree“ des Tagesspiegel-Feuilletonchefs Hans Scholz bestätigen eher die Regel. Und hatten ihr besonderes Schicksal. Plievier wurde nach seinem Abschied von der DDR dort zur Unperson und erst 1987 wieder gedruckt, Hans Scholz als „Frontstadt“-Publizist und bekennender Preuße war für die DDR von vornherein indiskutabel.

Lieber druckte sie eine Lizenzausgabe von Hans Hellmut Kirsts Kasernenhof-Trilogie „08/15“, in der nach Adams Urteil „der Krieg nicht vorkam“. Dass der Autor sein Werk als „Roman gegen den Kasernenhof, keinesfalls aber um ein Buch gegen das Soldatentum“ deklarierte, wird man selbst in der NVA gern gelesen haben.

Während die „Höhenkammliteratur“ den Anschluss an die literarische Moderne wieder suchte und fand, wälzte sich im Tal und in der Ebene ein breiter Strom weiter, der „aus den zwanziger Jahren kommend in die fünfziger weiterfloss und das Feld der populären Literatur in Gesamtdeutschland über mehrere Jahrzehnte beherrschte – ungeachtet aller politischen Zäsuren.“ Das kann man bei Adam lernen. Hannes Schwenger

Christian Adam: Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser. Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945. Galiani Verlag, Berlin 2016. 416 Seiten, 28 €.

Hannes Schwenger

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