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Szene aus „Delirio“ von Zad Moultaka.

© Thomas Aurin

Deutsche Oper Berlin: Nichts ist mehr sicher

"Delirio": Der libanesische bildende Künstler und Komponist Zad Moultaka hat ein Händel-Delirium für die Deutsche Oper geschrieben.

Bemerkenswert: schon wieder eine Uraufführung an einem Berliner Opernhaus. Allerdings würde man in der Tischlerei, der experimentellen Spielstätte der Deutschen Oper, auch nichts anderes erwarten, genau dafür gibt es sie ja. Zwei Liebespaare am Tisch, die Sänger mit langen Haaren, rosa Röcken und Bart in Conchita-Wurst-Manier: Nichts ist hier, wie es scheint, alle Zuschreibungen und Identitäten aufgelöst. Das Stück heißt „Delirio“, es basiert auf der Solokantate „Il delirio amoroso“ von Georg Friedrich Händel, in der eine Frau, Clori, in die Unterwelt hinabsteigt, um den verlorenen Geliebten Tirsi zu finden. Ein umgekehrter Orpheus-Mythos, wie ihn Jörg Widmann in seiner Oper „Babylon“, die gerade an der Staatsoper zu sehen war, ebenfalls vertont hat.

Jetzt ist es der libanesische bildende Künstler und Komponist Zad Moultaka, der Händels Musik zum Ausgangspunkt nimmt für eine Über- und Weiterschreibung. 2017 hat er den libanesischen Pavillon in Venedig gestaltet und in seiner Arbeit „Sun Dark Sun“ Klänge und Architektur suggestiv miteinander verbunden. In der Tischlerei dauert es rund 20 Minuten bis zu dem Punkt, an dem die Musik – Christian Karlsen dirigiert ein zehnköpfiges Ensemble – die sicheren Händel- Pfade verlässt und Moultakas Neukomposition einsetzt.

Es bleibt ein Gefühl von unerträglicher Einsamkeit zurück

Sie malt eher Stimmungen, als dass sie Themen verfolgen würde, man kann sie weniger „lesen“, muss sie vielmehr spüren, empfinden. Gibt es erkennbare Motive, stammen sie meist von Händel, eine Folge von vier oder fünf Tönen, über unzählige Takte hinweg wiederholt. So nehmen sie einen völlig anderen Charakter an – aber welche Musik würde das nicht, wenn man sie dermaßen unter die Lupe legt? Dazu Elektronik und Zuspielungen vom Band, Moultaka hat die komplette Kantate vorab mit der Sopranistin Flurina Stucki aufgenommen und in über 90 Fragmente zerlegt.

Stucki und ihre selbst im erkälteten Zustand noch gewaltige, raumflutende Stimme stehen im Mittelpunkt an diesem Abend der fluiden Identitäten. Sie ist Clori, eindeutig, aber eben nicht ausschließlich: auch die drei anderen Sänger Guilhelm Terrail, Matthew Pena und Paull-Anthony Keigthley schlüpfen in ihre Rolle, singen Teile ihres Parts, neben anderen Figuren wie dem Fährmann am Totenfluss. Denn darum geht es: um die Auflösung aller Sicherheiten und den daraus resultierenden Wahn, eben „Delirio“: Hat Tirsi überhaupt je existiert, ist er nur Cloris Einbildung entsprungen? In den Listen der Küstenwache taucht er nicht auf. Die Idee, den Hades in die assoziative Nähe eines modernen Auffanglagers für Flüchtlinge (Regie: Wolfgang Nägele) zu rücken, bürdet dem kurzen Abend vielleicht zu viel auf. Dennoch gelingt ihm etwas. Ein Gefühl bleibt zurück, von Verlassensein und unerträglicher Einsamkeit. Von einer Abwesenheit, die zu schmerzen nie aufhört.

Wieder am 7./8. sowie vom 11. bis 13. Juni

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