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Kultur: Deutsche Wesen kennen keine wahre Liebe, behauptet Maxim Billers Debütroman

Sie ist eine stumpfe, träge Masse, blond, teigig und kalt. Tapfer absolviert sie ihr Leben, als sei es eine Prüfung, hält still, vermeidet Streit und Protest.

Sie ist eine stumpfe, träge Masse, blond, teigig und kalt. Tapfer absolviert sie ihr Leben, als sei es eine Prüfung, hält still, vermeidet Streit und Protest. Sie heißt Sofie und ist die Ehefrau des Helden in Maxim Billers erstem Roman "Die Tochter".

"O Deutschland, bleiche Mutter!/ Wie sitzest du besudelt/ unter den Völkern" - das Brecht-Gedicht kommt einem unweigerlich in den Sinn, und es passt nicht nur zu Sofie, es passt zu dem Roman überhaupt. Denn "Die Tochter" ist die Geschichte eines Juden, der nach Deutschland kommt, ein Fremder bleibt und hinter dem Antlitz der Bundesrepublik immer wieder das Grinsen der besudelten bleichen Mutter erkennt.

Dass es hier auch um die Verarbeitung eigener Erfahrungen geht, steht außer Frage: Maxim Biller wurde als Zehnjähriger nach dem Prager Frühling mit seiner Familie von Prag nach Hamburg verpflanzt und ist inzwischen ein deutscher Schriftsteller, der sein gebrochenes Verhältnis zu der Un-Heimat manchmal lauter, manchmal leiser pflegt. Und diese Sofie kann man auch als eine Chiffre-Figur im Land der Judenmörder deuten.

Warum ist er eigentlich noch hier? Der zerquälte Israeli Motti Wind hängt in München fest, seit 15 Jahren schon. Vom Libanonkrieg traumatisiert, landete er 1982 in der bayerischen Metropole, wo er Frau und Tochter hatte, die ihm beide abhanden gekommen sind. Die Gründe für die Einsamkeit seiner Hauptfigur verschweigt Maxim Biller bis zum Schluss und nutzt die weißen Flecken, um Spannung zu erzeugen; Motti verliert sich in Andeutungen, die ein bedrückendes Geheimnis verbergen. Die Leerstellen seiner zerfledderten Erinnerung mit Vermutungen zu füllen, ist Sache des Lesers.

"Die Tochter" beginnt mit einer drastischen Szene, die Mottis zerstörter Psyche entspricht: An einem Sonntagnachmittag, allein in seiner Wohnung, gönnt sich Motti sein wöchentliches Pornovideo und erkennt in einer der Darstellerinnen seine inzwischen halberwachsene Tochter Nurit. Als sie fünf war, habe man sie ihm weggenommen, seine Prinzessin, seine Buba, und nun will er sie suchen, sie ihrer Mutter entreißen und endlich nach Israel zurückkehren.

Die Tochter im Pornofilm

Motti bricht auf zu einem Spaziergang durch die unwirtliche Stadt, der bis in den Abend dauert und von Biller wie ein Rahmen um Mottis zersplitternde Biographie gelegt wird. Denn Motti marschiert auf seiner Odyssee nicht nur durch Schwabing, fährt mit Taxi, Bahn und Tram vom Flughafen in die Innenstadt nach Puchheim und von dort bis in die Wohnung seiner Ex-Frau in die Amalienstraße, sondern fällt in kurzen Erinnerungsblitzen zurück in seine israelische Kindheit, den Krieg und die ersten Jahre in Deutschland.

"Die Tochter" ist ein gelungener Roman, auch wenn er manchmal zu kippen droht, weil die Distanz zusammenschmilzt und die poetische Ambition zugunsten harter facts und dreckiger Recherche aufgegeben wird, wie sie Maxim Biller schon 1991 in der "Weltwoche" zur Belebung der blutarmen, unsinnlichen deutschen Literatur einforderte. Wobei sich die Aneinanderreihung der Schreckensbilder dann ein wenig zäh ausnimmt. Dennoch ist es ein gelungener Roman, weil die Lektüre ein produktives Unbehagen auslöst und zu Widerspruch reizt, denn Biller geht ohne Scheu mehrere Tabuthemen gleichzeitig an.

Am besten gelingt Biller die deutsch-israelische Familien-Genealogie mit ihren pathologischen Verkrustungen, deren treffsicheren Beschreibungen jede Menge neurotischer Energie enthüllen. Motti begegnet Sofie im Flugzeug. Ihre helle Haut, ihr dicker Körper und die leise Stimme faszinieren den jungen Mann aus dem lärmenden Tel Aviv, aber warum er mit ihr zusammenbleibt und in München einen Jeansladen eröffnet, weiß er selbst nicht so genau. In der Münchner Stille fühlt er sich befreit von den quälenden Erinnerungen an den Libanonkrieg - dass diese weiter in ihm wüten, stellt sich erst nach einigen Jahren heraus.

Sofie beendet inzwischen ihr Germanistikstudium und tritt zum jüdischen Glauben über. Motti scheitert mit seinen Geschäftsprojekten und wird Religionslehrer bei der Deutsch-israelischen Gesellschaft. Am Wochenende gibt es bei Sofies Eltern in einem Münchner Villenviertel zu leisen Gesprächen Schokoladenkuchen, und irgendwann bringt Sofie Nurit zur Welt.

Mit hysterischer Verbissenheit konzentriert sich Sofie auf ihre berufliche Karriere und vergisst Kind und Ehemann, die, wie die virtuelle Vater-Tochter-Begegnung über den Videofilm zu Beginn des Romans schon andeutet, eine gefährlich enge Bindung eingehen.

Durchgestylter Außenseiterblick

Das deutsch-jüdische Verhältnis: ein altes Thema, ein schwieriges Thema und ein Biller-Thema, das er in seinen "Tempo"-Kolumnen der achtziger Jahre "100 Zeilen Haß", in seinen beiden Erzählbänden "Wenn ich einmal reich und tot bin" (1990) und "Das Land der Väter und Verräter" (1994) und zuletzt in einem provozierenden Nachruf auf Ignatz Bubis immer wieder aufgegriffen hat. Während in Billers journalistischen Texten meist ein polemischer Subjektivismus dominiert, er seinen durchgestylten Außenseiterblick mitunter ein wenig selbstverliebt kultiviert und mit seiner Polemik jede Differenzierung vom Tisch wischt, gewinnt Biller über die Fiktionalisierung eine zusätzliche Dimension - er gibt seinem Lebensthema einen anderen Dreh.

Sofie und Motti bilden eine Schicksalsgemeinschaft: Sie sind beide innerlich versehrt und kaputt, sie brauchen einander, auch wenn meist völlige Sprachlosigkeit herrscht. Dass das Gleichgewicht aus dem Lot gerät, als die Tochter geboren wird und sich ein Beziehungsmuster mit katastrophalen Folgen herausbildet, scheint nur folgerichtig. Sofie, dieses schwammartige, blasse, verschlossene Wesen, ist von einer Kälte befallen, die sie nur um sich selbst kreisen lässt und für die Regungen anderer unempfänglich macht. Motti, schmächtig, klein und dunkel, ist vom Krieg gezeichnet und überempfindlich. Er liebt seine Nurit abgöttisch, sorgt rührend für sie und beginnt mit einer Mischung aus Horror und Lust, sich an ihr zu vergreifen.

Billers Stärke liegt in der vielschichtigen Figurenzeichnung und der atmosphärischen Dichte seiner Szenen. Obwohl er von Motti in der dritten Person erzählt und damit Distanz herstellt, geht es ihm nicht um ein analytisches Durchdringen oder eine Bewertung der Entgleisungen. Sein Zugriff ist direkt und unmittelbar, Biller zeigt Abbilder von Mottis kaputtem Innenleben, das in verschachtelten Sätzen seine stilistische Entsprechung findet.

Angstgetrieben lässt Biller seinen Helden durch die Stadt rasen, ihn sich in Wahnvorstellungen verlieren, unterbrochen von euphorischen Schüben. In ihm gären die Verletzungen früherer Generationen, er agiert - so könnte man den Roman interpretieren - die Machtlosigkeit der erniedrigten Eltern aus und wird vom Opfer zum Täter. Gleichzeitig rächt er sich an den Eltern, die ihre Vergangenheit nicht bearbeiten, und heiratet eine Frau des Volkes, das den Holocaust verantwortet.

Gespenstische deutsche Stille

Sofies Autismus treibt Motti in eine Ersatzpartnerschaft mit seiner Tochter, deren seelische Störung der Vater zwar wahrnimmt, aber lange Zeit verdrängt. Nurit ist von Geburt an krank, weil sie das Produkt einer kranken Bindung ist. In ihr scheint sich die gespenstische deutsche Stille, die Motti zuerst genießt und dann hasst, das Abgestorbene des fremden Landes, das Phlegma der Mutter fortzusetzen.

Eindrücklich entwickelt Biller die Dynamik der neurotischen Bindungen, die nichts als weitere Neurosen produzieren, weiteren Schmerz, weiteres Leid, ein Teufelskreis. Dem Verhältnis zwischen Motti und Sofie scheint eine gewisse tragische Zwangsläufigkeit inne zu wohnen, wie sie für deutsch-jüdische Beziehungsgeschichten typisch ist. Im letzten Viertel von "Die Tochter" ist nämlich von einer parallel verlaufenen Liebesbeziehung die Rede. Geschildert wird sie aus der Perspektive eines Ich-Erzählers, Schriftsteller von Beruf, der erstmals auf Seite 179 auftaucht, ein entfernter Freund Mottis ist und aus dessen Geschichte ein Buch zusammen bastelt. Die alte Roman-im-Roman-Idee also.

Konvertiten nach Lust und Laune

Sie scheint Biller erst verspätet eingefallen zu sein, denn diese zusätzliche Ebene klappert etwas zusammenhanglos hinterher. Als gewiefter Konstrukteur bekommt er die Kurve noch, denn er nutzt den von Auswanderungswünschen besessenen deutsch-jüdischen Intellektuellen, um die fehlenden Puzzleteile von Nurits Schicksal zu ergänzen. In Billers vertrautem zynischen "Tempo"-Sound erzählt dieser Schriftsteller von seiner Freundin Marie, die ihn betrogen, belogen und um ein Kind gebracht hat und rechnet mit der deutschen Frau als solcher ab: Sie sei grausam, gewissenlos und einfältig im Umgang mit der deutschen Vergangenheit. "Heute weiß ich schließlich, dass ich schon bald weg sein werde, und ich weiß, wem ich dafür dankbar sein muss. Es ist natürlich Marie, wer sonst, diese kalte, ängstliche, selbstverliebte Frau, der ich jahrelang jedes zarte Wort und jede sanfte Berührung geglaubt habe, bis ich begriff, dass Deutsche nie so sind, wie sie wirklich sind - darum können sie auch, wenn sie wollen, hintereinander zum Buddhismus, zum Shintoismus und zum Judentum konvertieren,und trotzdem wird jede neue Identität, die sie annehmen, nur eine besonders durchschaubare Maske ihres wahren Wesens sein."

Frauen sind eine Bedrohung

Weil diese polemische Suada nicht mehr aus dem Mund der gebrochenen Heldenfigur kommt, der selbst in Schuld verwickelt ist, und man die Denkfiguren inzwischen auch kennt, wird das Ganze ziemlich platt. Bände spricht auch, dass allein Mottis seelischen Deformationen durch seine Biografie - die grausamen Kriegserfahrungen - motiviert sind, während für Sofies Gefühlskälte keine Erklärungen angeboten werden. Ihre Eltern sind verkrampfte Spießer und latent antisemitisch, aber sie hat kein Trauma erlitten. Sie ist Deutsche, und das reicht Biller als Begründung.

Überhaupt scheint sich das bedrohliche deutsche Potential vor allem in den Frauen abzulagern, so als sei es ein genetisch kodierter Defekt. Das klingt nach handfesten Projektionen und einem verqueren Frauen-Bild. Maxim Billers Schwester Elena Lappin ist dieses Thema eine Erzählung wert, "Die rosa Schleife" in ihrem Band "Fremde Bräute". Mit bissigem Witz erzählt sie von einem arroganten jüdischen Schriftsteller namens Max - ohne Zweifel eine Parodie auf ihren Bruder -, dessen konvertierwütige deutsche Freundin mit einem anderen Mann nach Israel abdampft und die sich, allem Deutschsein zum Trotz, am Ende als die Schlauere entpuppt. Befreiende Komik gibt es in Billers Roman über Deutschland nicht, er tritt der bleichen Mutter sehr ernst gegenüber und leuchtet ihre Perversionen bis in jede Falte aus. Mit seiner ernsten Art ist er, pardon, eben doch auch sehr deutsch.Maxim Biller: Die Tochter. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. 448 Seiten. 34 DM.

Maike Albath

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