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Kultur: Deutscher Expressionismus: An der Ostsee das Paradies

Als Ernst Ludwig Kirchner 1925 rückblickend seine Errungenschaften aufzählte, vermerkte er an erster Stelle "die Gestaltung des nackten Menschen in der Natur." So hat sich die Malerei des deutschen Expressionismus ins Gedächtnis eingeprägt: als eine Kunst unbeschwerter Natürlichkeit jenseits der gesellschaftlichen Widrigkeiten ihrer Zeit.

Als Ernst Ludwig Kirchner 1925 rückblickend seine Errungenschaften aufzählte, vermerkte er an erster Stelle "die Gestaltung des nackten Menschen in der Natur." So hat sich die Malerei des deutschen Expressionismus ins Gedächtnis eingeprägt: als eine Kunst unbeschwerter Natürlichkeit jenseits der gesellschaftlichen Widrigkeiten ihrer Zeit. Den Ton setzte Max Pechstein, als er sich erinnerte: "Wir lebten in absoluter Harmonie, badeten und arbeiteten."

Der Mensch in der Natur, das waren bei den Künstlern der "Brücke" vor allem die Badenden an den unberührten Stränden der Ostsee. Man kennt die Bilder, wenn nicht im Einzelnen, so doch im Ganzen als Idealbild einer unbeschwerten Natürlichkeit. Die Bielefelder Kunsthalle hat sich jetzt der Aufgabe unterzogen, die Ferienorte der expressionistischen Maler aufzuspüren und in einer geografisch gegliederten Ausstellung erstmals einen umfassenden Überblick über das Generalthema der "Badenden" zu geben.

Es spielt keine Rolle, ob die Zivilisationsflucht der Expressionisten bloßer Eskapismus war oder tatsächlich jene unbeschwerte Jugendlichkeit, die sich um die technisch-industrielle Umwälzung des Alltags nicht scherte. Die Bielefelder Ausstellung ist ganz einfach ein wunderschöner Augenschmaus. Übrigens vermerkt Kirchners Bilanz von 1925 als zweitwichtigstes Hauptthema: "das Straßenbild". Aber das nur nebenbei.

Die präzise Ermittlung der Orte und Landschaften belegt - nicht zum ersten Mal und keineswegs überraschend - die topographische Genauigkeit der expressionistischen, im landläufigen Urteil als frei fantasierend abgetanen Kunst. Vor allem Kirchner gibt exakt wieder, was er sieht; so sind seine Fehmarn-Bilder anhand der charakteristischen Findlinge am Strand ohne weiteres zu identifizieren. Indem er aber Steinen und Körpern dieselbe Farbigkeit gibt, unterstreicht Kirchner die Einswerdung von Mensch und Natur auf eindringliche Weise.

Die Künstler der 1906 gegründeten "Brücke" verstanden sich als Neuerer fernab der zumal in Dresden gepflegten akademischen Doktrin. Zunächst beschäftigten sie sich mit der Landschaft; so Karl Schmidt-Rottluff und Erich Heckel in Dangast am Jadebusen. Ab 1909 wandten sich die "Brücke"-Maler dem bewegten Körper in der Landschaft zu, und entsprechend lehnten sie die akademieüblichen Modelle vehement ab. "Wir mussten zwei oder drei Menschen finden, die keine Berufsmodelle waren und uns daher Bewegungen ohne Atelierdressur verbürgten", schrieb Pechstein im Rückblick. Kein Standbein und kein Spielbein, keine Torsion und schon gar kein laszives Räkeln; stattdessen ein Stelzen und Staksen, dem man neben Ungelenkigkeit und zweifellos Unbekümmertheit um irgendwelche Posen auch die Kühle des Ostseewassers anzusehen meint. Durchweg geht den Bildern, trotz aller Lebensfreude, der erotische Blick vollständig ab; "Unschuld" ist hier tatsächlich das rechte Wort. Die Freundinnen der Künstler, dazu junge Gelegenheitsmodelle bilden die Personnage, und "fehlte als Gegenpol ein männliches Modell, so sprang einer von uns Dreien in die Bresche".

Pechstein spricht hier von den Moritzburger Teichen unweit Dresdens, wo er mit Kirchner und Heckel 1909 und 1910 arbeitete. Bald kamen abgeschiedene Orte am offenen Meer hinzu, so Staberhuk auf der Insel Fehmarn, die Kirchner für sich entdeckte - 1912 und 1913 entstand hier nahezu die Hälfte seiner umfangreichen Jahresproduktion. Das winzige Örtchen Osterholz an der Flensburger Börde erkor Heckel aus, bevor er an der Steilküste im Norden von Hiddensee arbeitete. Pechstein entdeckte 1909 Nidden auf der Kurischen Nehrung im äußersten Ostpreußen, ihm folgte auf seine Empfehlung hin 1913 Schmidt-Rottluff.

Der in Text und Gestaltung ganz vorzügliche Ausstellungskatalog übergeht die künstlerische Ahnenschaft des "Badenden"-Themas nicht. Aber die deutschen Expressionisten suchten im Unterschied zu den französischen Vorbildern von Cézanne bis Matisse nicht die Auseinandersetzung mit einer großen Tradition, sondern die Abkehr von ihr; getreu dem "Brücke"-Motto, das jeden Künstler für die gemeinsame Sache reklamierte, "der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt." Es hieße jedoch, den Anspruch dieser Kunst zu unterschreiten, wollte man in ihr lediglich spontane Sinneseindrücke sehen. Zumal bei Kirchner lässt sich der kompositorische Ehrgeiz verfolgen, die Bewegung der Personen mit der der Elemente in ein spannungsvolles Gefüge zu bringen.

Im Thema der "Badenden" überlagern sich verschiedene Einflüsse. Neben den mächtigen lebensreformerischen Impuls seit der Jahrhundertwende tritt der Exotismus nach dem Muster Gauguins. In den Gemälden Pechsteins und Schmidt-Rottluffs aus Nidden ist nicht mehr zu unterscheiden, ob sie in all ihrer Leuchtkraft das nachgerade südliche Licht der sandigen Nehrung überhöhen oder vielmehr der Vision einer unberührten Südsee Raum geben. Wie groß die Spannweite der Natureindrücke ist, zeigen demgegenüber Heckels Bilder aus Osterholz, wo kristalline Wolken über dem Blau und Grün des Strandes erstarren.

Nur im Katalog beschrieben werden kann der Affront, den die "Brücke"-Sujets für die Gesellschaft ihrer Zeit bedeuteten. Nackt zu baden war strengstens verboten; die Suche der Künstler nach abgeschiedenen Orten erklärt sich zunächst einmal aus der Notwendigkeit, dem wachsamen Auge der Obrigkeit zu entgehen. Das ist heute belächelte Vergangenheit. Sichtbar geblieben aber ist der Ausbruch aus der Konvention hin zu einer Natürlichkeit, die in den Bildern der Expressionisten zu unangestrengtem Ausdruck gefunden hat - zu einem Höhepunkt der deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts.

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