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Ein Volk erforscht sich selbst. Tagebuchschreiber ahnen nicht, auf wie viele Fragen ihre Aufzeichnungen heute Antworten geben können.

© Deike Diening

Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen: Unter Einsatz des Lebens

Das Deutsche Tagebucharchiv im badischen Emmendingen sammelt private Tagebücher. Sie erzählen von kleinem Glück und großem Unglück – und von der Verfassung der Nation. Ein Besuch

Ein unbeteiligter Beobachter, einer vom Mars vielleicht, der durch Emmendingen spaziert, müsste das Deutsche Tagebucharchiv, frei stehend auf dem Marktplatz im alten Rathaus, für die bedeutendste Einrichtung der ganzen Stadt halten. Vielleicht stimmt das sogar.

Ein Tagebuch ist immer zuerst ein Alleingang. In einer Jahre dauernden Suchbewegung schreiben Privatleute nur für sich. Für die Dauer einer Reise, einer Pubertät, eines Krieges, einer Ehe. Wenn sie die Bücher Jahre später nach Emmendingen schicken, enthalten sie etwas so Flüchtiges wie Seele. Und in ihrer Summe eine Art innerer Verfassung des Landes. Wer sein Innerstes in Form eines privaten Tagebuchs dem Archiv überlässt, wird sofort Geschichte.

„Wer hier etwas hergibt, will nicht loslassen, sondern bewahrt wissen“, sagt Frauke von Troschke, die Gründerin des Archivs. Ausreichend unbedeutend muss sein, wer einliefern will. Jedenfalls im Sinne von Prominenz. Er darf noch keine Tagebücher veröffentlicht haben, keine Person der Zeitgeschichte sein.

Viele veröffentlichte Bücher zeigen ja ein aufdringliches Bewusstsein für ihr Publikum. Bei privaten Tagebüchern fehlt das. Es ist, als würde eine Linse auf ein persönliches Detail, ein Leben scharf stellen, während sich an den Rändern mit der Zeit – zuerst noch unscharf – etwas Größeres abzeichnet, das alle Welt im Nachhinein als das Eigentliche bezeichnen wird. Die Geschichte.

Tagebuchschreiben ist eine Art, Spuren zu hinterlassen. Und natürlich hat sich auch von Troschke gefragt, ob das autobiografische Selbstgespräch in Zeiten der Facebook Timeline bald ein abgeschlossenes Sammelgebiet ist. Tatsächlich aber fließen in einem steten Strom etwa 200 Tagebücher pro Jahr neu in die Sammlung ein, eingereicht von Kindern, die die Bücher ihrer Eltern selbst nicht lesen möchten, aber sie hiermit quasi der Wissenschaft vermachen. Einige leben noch und liefern jedes Jahr selbst einen Band ein. Andere wollen mit diesem Akt eine Lebensphase beenden.

Frauke von Troschke beneidet Tagebuchschreiber. „Wissen sie, es gibt introvertierte und extrovertierte Menschen.“ Bei ihr dränge immer gleich alles heraus, werde ausgesprochen, sei in der Welt. 16 Jahre Gemeinderat in Emmendingen, soziale Projekte, sie hat ein Sorgentelefon eingerichtet für Jugendliche, die Welt mit ihren Lebensgeschichten summte durch sie hindurch. Und sie hat immer schon zugehört.

Walter Kempowski war wütend

Ein Volk erforscht sich selbst. Tagebuchschreiber ahnen nicht, auf wie viele Fragen ihre Aufzeichnungen heute Antworten geben können.
Ein Volk erforscht sich selbst. Tagebuchschreiber ahnen nicht, auf wie viele Fragen ihre Aufzeichnungen heute Antworten geben können.

© Deike Diening

Als von Troschke Mitte der 90er ihre Schwester in Italien besuchte, entdeckte sie in einem Ort bei Arezzo das italienische Tagebucharchiv, gegründet von einem Journalisten. Dies war ein nationaler, europaweiter Schatz. Eine Fülle an Antworten war hier ausgebreitet, für Fragen, die erst noch gestellt werden mussten. Unmöglich, diese Zeugnisse zu ignorieren.

1998 gründete sie das deutsche Pendant. „Machen Sie“, sagte der Bürgermeister. „Bevor Ihnen jemand die Idee wegschnappt.“ – Das war kein Spleen. Von Troschke hatte den Zugang zum Bewusstseinsstrom eines Landes gefunden. Dann kontaktierte sie Walter Kempowski mit seinem „Echolot“-Projekt. Aber der Schriftsteller war wütend. Wie sie dazu komme, sich erstes deutsches Tagebucharchiv zu nennen?

Nicht erstes, nur deutsches, sagte Frauke von Troschke. Vielleicht – so ihre naive Annahme – könnten ja der Autor des „Echolot“ und sie zusammen… Aber Kempowski ging es zunächst um seine Literatur, dann erst um die Tagebücher. Er witterte Konkurrenz. Ihr ging es um professionelle Erschließung, Erfassung und Verschlagwortung. Bloß keine Zettelkästen! Schließlich müsse mit dem Schatz gearbeitet werden. Alles werde von Anfang an systematisch erfasst, nach italienischem Vorbild. Sogar auf europäischer Ebene ist nun eine gemeinsame Recherche möglich.

Mit jedem Autor schließen sie einen Urhebervertrag. Drei Gruppen von je 12 Lesern treffen sich monatlich. Jeder nimmt ein Dokument mit nach Hause, füllt einen Erfassungsbogen in Anlehnung an die Bibliotheksprogramme aus. Nur anderthalb feste Stellen gibt es, aber über 90 ehrenamtliche Mitarbeiter. Finanzierung vor allem durch Spenden. Letztes Jahr wurde ein Museum eröffnet, die erste Ausstellung behandelte den Ersten Weltkrieg.

Wissenschaftler und Doktoranden wenden sich regelmäßig an das Archiv. Sie stellen dann ihrerseits die Vergrößerungslinse scharf, verengen und intensivieren den Blick. Es ist, als könnte man einem speziellen Volksorakel noch die abwegigsten Fragen stellen. Die Tagebücher sind allesamt klüger als ihre Verfasser. Die Fragen, die man mit ihrer Hilfe beantworten würde, haben sie sich nie denken können. Allein im letzten Jahr reichten sie von „Anorexie“ in den Ego-Dokumenten zwischen 1959 bis 1975 bis zu „Die Zigarette“ im Ersten Weltkrieg. „Drogenkonsum im Berlin der Kaiserzeit und Weimarer Republik“, „Bedeutung der Spielzeugeisenbahn“, „Traumberichte“, „Binationale Partnerschaften“, „Die Ölkrisen von 1973 und 1979“. Ferner „Kindheit im Dritten Reich“, „Sport in der DDR“ und „Stillen im 20. Jahrhundert“.

Die Quellen säumen transkribiert, kopiert auf DIN A4 eine ganze Wand. Sie erzählen vom Wert des Selbstgesprächs. Es sind ruhige Reflexionen von Leuten, die sich unbeobachtet fühlen. Sie handeln von der Beziehung des Ich zur Welt. Der Effekt ist verblüffend. Jeder Sprachduktus erzeugt nach wenigen Seiten etwas Hermetisches. Soghaft, dieses unentrinnbare Voranschreiten in der Zeit.

Die Bücher berichten von der Einsamkeit in der Ehe, von der Wucht einer ungerechten Bestrafung als Kind. Menschen richten sich an ihren Tagebüchern auf, erinnern sich an diejenigen, die sie sein wollen – wenn sie die sehen, die sie geworden sind. Nur dem eigenen Gewissen verpflichtet? Hier trifft das zu.

Die Zartheit, die Zartheit der Deutschen, wo ist die denn sonst noch dokumentiert? Unerhörte Vorstellung. Gibt es überhaupt so etwas wie die Zartheit der Deutschen? Die einen haben den ersten Weltkrieg erlebt, die anderen den Zweiten. Andere die DDR, andere die sexuelle Befreiung. Eine „Hochwasserchronik“ gibt es, die Flucht, den Mauerfall….

Man weiß ja, wie es ausging, wenn sie hier noch ganz unbefleckt von jedem Wissen in den Krieg ziehen, Verbände stricken, sich verabschieden, nie wiederkommen, versehrt wiederkommen, andere geworden sind. Mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs begannen sehr viele Leute ein Tagebuch. Vielleicht in der Ahnung, dass nun etwas Historisches geschah, sagt Frauke von Troschke. Oder in plötzlicher Ermangelung des gewohnten Gesprächspartners, der entweder an die Front gezogen oder zu Hause geblieben war. Während die einen schlecht träumen, schießen die anderen schon Franzosen tot. Das Schießen ist dokumentiert wie die Sehnsucht nach den Schützen.

Wem stünde zu, die eine gegen die andere Erfahrung aufzuwiegen? Jeder lebt ja unter Einsatz seines Lebens. Jeder wirft alles in die Waagschale, was er hat.

Der Einzelne ist Teil einer Gruppe

Ein Volk erforscht sich selbst. Tagebuchschreiber ahnen nicht, auf wie viele Fragen ihre Aufzeichnungen heute Antworten geben können.
Ein Volk erforscht sich selbst. Tagebuchschreiber ahnen nicht, auf wie viele Fragen ihre Aufzeichnungen heute Antworten geben können.

© Deike Diening

Am Ende ist es paradoxerweise gar nicht das einzelne Wesen, das interessiert, sondern seine Bedingungen. Seine typische und nicht seine individuelle Reaktion auf die Zeit. Das Wesen als Teil einer Gruppe. Ausgerechnet mit seinem Persönlichsten bleibt der Mensch als Teil der Zeitgeschichte in Erinnerung. Es ist nicht möglich, im Archiv nach Namen zu suchen. Viele Menschen leben noch, haben Nachfahren. Die wollten gelesen, aber nicht geoutet werden. Wenn dieser Tage der Katalog online geht, wird man nach Schlagworten, nicht aber nach Namen recherchieren können.

Schlagworte. Die Worte von Geschlagenen. Von Schlägern. Von Opfern, Tätern, Mitläufern, Begeisterten, Liebenden, Sehnenden. Die Schreiber berichten von den Räumen zwischen den Ereignissen. Durch welche Motive sie nach eigenem Dafürhalten verbunden sind. In seinem eigenen Leben fliegt jeder auf Sicht.

„Die meisten schreiben, wenn sie unglücklich sind“, sagt von Troschke. Es sind mehr Männer als Frauen. Entweder ist also ihr Bedeutungsstreben größer oder ihr Unglück. Die Aufzeichnungen beginnen oft mit einem einschneidenden Ereignis: Kriegserklärung, Pubertät, Geburt eines Kindes, einer neuen Liebe. Dann folgen Kurschatten und Kassenlage.

Die eindrucksvolle Statistik des Archivs benennt: 14 727 Dokumente von 3329 Autoren. 10 922 Tagebücher, 2508 Erinnerungen, 1995 Brief- und 130 Kartensammlungen. Geschrieben sind davon 4457 in Sütterlin und 178 in Steno. Gut, dass eine Ehrenamtliche noch altes Steno lesen kann.

Vor einer Wand säurefreier Archivkartons öffnen die Ehrenamtlichen einen frisch eingesandten Nachlass. Erstaunlich wenig Eitelkeit gebe es in den Dokumenten. Nur manchmal setzten sich Männer im Rentenalter an ihren PC, um ihre Erinnerungen aufzuschreiben, die sie dann Memoiren nennen. Mit dem Wunsch, etwas zu hinterlassen, sehen sie dann die Vergangenheit durch die Ambition der Gegenwart. Die Frauen der Archivgruppe jedenfalls lesen lieber „echte“ Tagebücher.

Zwei Ehrenamtliche haben ihre eigenen Tagebücher verbrannt. Eine aus Angst vor Entdeckung, die andere wegen Belanglosigkeit. Für die Erinnerungen anderer jedoch streifen sie sich Handschuhe über. „Das Eigene relativiert sich, wird unwichtig, auch leichter.“ Sie sichten Aquarelle. Fotos. Getrocknete Blumen, sogar Näharbeiten. Haarlocken sind ein eigenes Genre. Besonders Pfarrer schreiben viel. Die Geschichte aus der Perspektive des deutschen Pfarrhaushaltes dürfte umfassend dokumentiert sein.

Ein Tagebuch ist aus Papiermangel auf Toilettenpapier geschrieben. Die Verlobte von „Ottole“ nähte ihrem Liebsten ein Herzchen. Otto zog in den Krieg, Feldpost schrieb er noch, sie umschrieb die Leerstelle in ihrem Leben, nach Hause zurück kehrte er nicht.

www.tagebucharchiv.de

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