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Deutsches Theater Berlin: Ich und Ich

Nina Hoss zappelt sich am Deutschen Theater Berlin durch den Botho-Strauß-Klassiker „Groß und Klein“.

Was ist denn hier passiert? Ist dieses Mädchen, das da rücklings auf einem Stuhl hockt und linkisch mit den Armen schlenkert, als seien es Stecken, sich permanent am Rücken kratzt wie ein Affenjunges und mit kindlicher Unschuld seine Schenkel auf und wieder zuklappt – ist dieses schlaksige Mädchen, das noch nichts von seinem Körper weiß, tatsächlich Nina Hoss? Eine der wenigen deutschsprachigen Schauspielerinnen, die sich trauen, zu und in ihrer Kraft zu stehen. Deren stiller Ernst etwas Geheimnisvolles und auch Erschreckendes hat. Die mit der Erhabenheit der Wissenden ihre Gorgonen- oder Kassandra- oder Medea-Blicke durch Bühnen- oder Filmwelten schießt, dass alle um sie herum versteinern – oder zumindest das Blut in ihren Adern gefriert. Immer tiefer schauend, existenzieller und würdevoller leidend und entblößender lachend als die anderen? Ja, es ist wohl Nina Hoss. So steht es im Programmheft.

Lottekotte heißt die Hauptfigur aus Botho Strauß’ Stück „Groß und Klein“. Und als solche turnt Nina Hoss in einem scheußlich altbackenen Kostüm der ewigen Jungfer gerade auf dem Stuhl herum, den ihr die Bühnenbildnerin Bettina Meyer in einen niedrigen, schwarz umrandeten Sehschlitz auf die Bühne des Deutschen Theaters gestellt hat; langweilt sich während eines Marokko-Urlaubs fast zu Tode, führt in ihrer Einsamkeit lustig-nölige Pfeifen-im-Wald-Selbstgespräche und lauscht – Schicksal der Isolierten – auf die Gespräche der anderen.

Zwei deutsche Herren gehen nämlich unter ihrem Fenster auf und ab und sprechen über „Trunksucht“, „Gier“ und „das Elementare“, was Lotte sofort hellauf begeistert. „So geht das schon seit Stunden. Wahnsinn.“ Dazu zieht Nina Hoss zahlreiche naive Gesichter und lässt die Marionettenglieder klappern – während der Zuschauer sich die Augen reibt.

Die Regisseurin Barbara Frey, der an gleicher Stelle vor einem Jahr mit der gleichen Hauptdarstellerin eine famose „Medea“-Inszenierung gelang, hat die Ausnahmeschauspielerin Nina Hoss zum 0815-Bühnengirlie geschrumpft. Wahnsinn! Wie Botho Strauß sagen würde, der mit „Groß und Klein“ vor genau dreißig Jahren ein echtes Stück aus den Siebzigern geschrieben hat, bekanntlich das Jahrzehnt der sogenannten Innerlichkeit. Es gibt ein sehr kleines und feines Ich: Lotte, die gerade von ihrem Ehemann Paul (Christian Grashof) verlassen wurde. Und es gibt ein großes, böses Kollektiv, also die Gesellschaft, die aus Lottes Ehemann Paul, einigen unglücklichen Paaren und den Bewohnern zweier Häuser besteht, einem zeitgemäßen Wohngemeinschaftshaus und einem anonymen Wohnsilo, in dem keiner den anderen kennt. Wie den meisten Stücken und Texten von Strauß haftet auch „Groß und Klein“ etwas Disparates an – worin sich Spuren der Frühromantik erkennen lassen, in der das Fragmentarische auf die Sehnsucht nach dem Unendlichen verweist. Neben prägnanten Beziehungsskizzen läuft die Leidensgeschichte der Lotte ziemlich unverbunden her – was allerdings in der Natur der Sache liegt.

Denn Lotte ist anders. Psychisch labil, bleibt sie für sich, gerade weil sie nicht „bei sich“ sein kann, wie man heute wohl sagt. Mit wehenden Fahnen will sie, inspiriert von einem monströsen Helfersyndrom, in das Leben Wildfremder hineinstürmen, knallt aber jedes Mal mit schmerzhaftem Getöse gegen deren Distanzbedürfnis. Bis sie schließlich, vereinsamt und verrückt, im Wartezimmer einer Arztpraxis landet. Doch auch da will man sie nicht haben. „Gehen Sie bitte“, sagt der Arzt. „Ja“, sagt Lotte.

Auch in Peter Handkes „Die linkshändige Frau“, einem Zwillingstext aus dieser Zeit, werden Ich und Kollektiv gegenübergestellt. Aber während die Frau bei Handke die Gesellschaft flieht, um in der Einsamkeit einige wahre, mystische Empfindungen zu erleben, findet Lotte nur zum Wahn einer jüdischen Legende. In ihrer Verstiegenheit glaubt sie, eine von 36 Gerechten zu sein, um derentwillen Gott die sündhafte Welt nicht untergehen lässt. Edith Clever gab diese beseelt Verlorene bei der Schaubühnen-Uraufführung unter Peter Stein verhalten und explosiv, mit rheinländischem Akzent und einer berührenden Unberechenbarkeit.

Davon kann bei Nina Hoss keine Rede sein. Sie spielt Lotte durchgehend mit Ausrufezeichen, als Zappelphilipp, hinter dem wahnhaften Eifer immer geschützt, und also auch bei Demütigungen durch ihren Noch-Ehemann, Ex-Schulkameradinnen oder genervte Kurzzeitfreunde unberührbar. Sie konzentriert sich ganz aufs Nesteln, Fummeln, Verrenken, manchmal, wenn sie schreit, wird für Sekunden die Kraft der Tragödin spürbar – doch dann fällt sie wieder in sich zusammen und grinst die Abgründe zwischen sich und den anderen mit tapferem Ist-was?-Lächeln weg.

Warum Barbara Frey nach diesem Stück gegriffen hat, wissen die Götter – von denen die Regisseurin freilich nichts wissen will. Das wiedererwachte Bedürfnis nach Religion dürfte sie nicht interessiert haben. Dafür macht sie sich viel zu sehr über Lotte lustig. Wie in „Medea“ gelingt ihr zwar eine konzentrierte Hintergrundstille – doch die Szenen, die von der Drehbühne in den Bühnenausschnitt hinein- und wieder hinausgefahren werden, sind durch nichts miteinander verbunden und haben, abgesehen von ein paar gelungenen Pointen, vor allem Sterilität zu bieten.

Frank Seppeler und Friederike Wagner amüsieren anfangs als unglückliches Paar, bei dem die kapriziöse „Frau“ dem sich nach dem besonderen Moment verzehrenden „Mann“ die Nachtwache an ihrem Bett untersagt. Gegen Ende bewegt Christian Grashof als harmoniesüchtiger Sylter Zahnarzt, der über seine verwöhnten Kinder und den verlogenen Schwiegersohn verzweifelt. Dazwischen hakt die Regisseurin Lottes Stationen mit beamtenhafter Ungerührtheit ab, als ginge es ihr nicht um das Stück, sondern darum, nach „Der Triumph der Liebe“ von Marivaux eine weitere Legende der alten Schaubühne zu entdämonisieren.

„Ich bin ein protestantischer Mystiker“, sagt Botho Strauß. Barbara Frey hat das Protestantische sehr groß und die Mystik sehr klein geschrieben.

Wieder am 20. und 21. März sowie am 5., 12., 17. und 26. April.

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