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Barbarisch. Oliver Stokowski als König Thoas und Kathleen Morgeneyer als Iphigenie.

© Jörg Carstensen/dpa

Deutsches Theater Berlin: Iphigenie auf Tauris: Heraus in eure Schatten, rege Wipfel

Fast ein Hörstück: Ivan Panteleev inszeniert „Iphigenie auf Tauris“ am Deutschen Theater Berlin.

Klein und schmal steht Iphigenie im Deutschen Theater auf einem schlichten Podest und hadert: Einerseits würde sich diese junge Frau im knielangen weißen Kleid ihren taurischen Gastgebern da unten ja gern erkenntlich zeigen. Schließlich sollte sie zu grauen mythischen Vorzeiten, im Trojanischen Krieg, von ihrem Vater Agamemnon der griechischen Jagdgöttin Artemis (beziehungsweise ihrem römischen Äquivalent Diana) geopfert werden.

Diana hatte sie aber letztlich gerettet und statt in den Hades eben auf die Insel Tauris verpflanzt, die hier, in Ivan Panteleevs Goethe-Inszenierung, an eine abstrakte, zeitlos-zeitgenössische Baustelle erinnert, auf der die Menschheit seit Urzeiten bei ihrer Sisyphos-Arbeit an der eigenen Humanität versagt.

Aber der Reihe nach. Gerade steigt also der Taurer-König Thoas – in Oliver Stokowskis Darstellung ein früh resignierter, defensiver Mann – über eine handelsübliche Leiter zu Iphigenie nach oben aufs Podest, um ihr einen Heiratsantrag zu machen. Dass die sich stattdessen zurück nach Griechenland sehnt, kann Thoas derart schwer verkraften, dass er umgehend eine längst abgeschaffte blutrünstige Tradition wieder einzuführen droht: Jeder fremde Ankömmling soll ab sofort wieder auf dem Altar der Diana geopfert werden.

Die Erinnyen verfolgen den Muttermörder Orest

Praktischerweise sind auch zwei junge Männer eingetroffen, an denen sich das Exempel prächtig statuieren lässt. Dass es sich um Iphigenies Bruder, den von den Erinnyen verfolgten Muttermörder Orest (Moritz Grove), und dessen Freund Pylades (Camill Jammal) handelt, wird sowohl den Geschwistern als auch dem Rest des dramatischen Personals selbstredend erst im Verlauf der Handlung klar. Denn die ist schließlich nur der Vorwand für ausgiebige dialektische Dialoge über Schicksals- und Schuld-, Macht- und Ermächtigungs-, mithin also die Menschheitsfragen schlechthin.

Theodor W. Adorno war nicht der Einzige, der das „Iphigenie“-Drama im besten Sinne für „inkommensurabel“ hielt. Die Agamemnon-Tochter, vermeintlich auf der „Barbaren“-Insel gestrandet, blickt ja als Spross des fluchbeladenen Tantaliden-Geschlechts ihrerseits auf eine Familiengeschichte zurück, für die „barbarisch“ gar kein Ausdruck ist. So hatte ihr Großvater Atreus, um nur ein Beispiel aus der Blutrünstigkeitssaga zu nennen, einst seine Neffen getötet und sie ihrem Vater, dem eigenen Bruder, zum Abendmahl vorgesetzt. Iphigenie obliegt es nun in diesem Schlüsselstück der deutschen Klassik, den Sippen-Fluch zu brechen und gleichsam die Ehre des Menschen als vernunftbegabtes, human emanzipiertes Wesen zu retten.

Der Bühnenkasten ist vollständig schwarz

Da es der Dichtung zum Trotz aber mit der Humanität de facto ja nicht so wahnsinnig weit her und Panteleev nicht der Einzige ist, der am klassischen Ideal berechtigte Realo-Zweifel hegt, hat Johannes Schütz für diese „Iphigenie auf Tauris“ einen vollständig schwarzen Bühnenkasten entworfen, den die Schauspieler zu Beginn von der ersten Zuschauerreihe aus betreten. In schwarzen Arbeitsoveralls und mit weißen Farbeimern und Malerrollen ausgestattet, übertünchen sie die Düsternis ebenso emsig wie ziellos-fahrig mit einem Weiß, das gar nicht erst so tut, als wäre es in der Lage, irgendwie strahlend und makellos zu wirken.

Diese erste Amtshandlung wird die äußerlich spektakulärste des kompletten Abends bleiben: Panteleevs Zugriff ist szenisch so minimalistisch, dass man fast von einem Hörstück sprechen könnte. Er versucht, der Inkommensurabilität vor allem durch genaue Textarbeit gerecht zu werden, die Interpretationsschnellschüsse wohltuend vermeidet, Widersprüche aushält und den klassischen hohen Ton gegenwartsdurchlässig macht, ohne ihn zu banalisieren. Das ist natürlich anspruchsvoll und als Versuch entsprechend selten geworden; nicht nur im Theater. Wenn die Schauspieler also, was sie hier mitunter durchaus tun, an diesem Anspruch scheitern, tun sie das auf ungleich höherem Niveau als an den vielen (Kommensurabilitäts-)Abenden, die man sonst gern zu sehen bekommt.

Am bemerkenswertesten sind die beiden Schauspielerinnen des Abends: Barbara Schnitzler gelingt mindestens in ihren ersten Minuten als Thoas-Vertrautem Arkas eine bestechende Klarheit und Sachlichkeit. Und Kathleen Morgeneyer schafft es als Iphigenie tatsächlich über weite Strecken, den klassischen Pathos-Ton in eine zeitlose Gegenwärtigkeit zu wenden, die zeigt, was dieser Klassiker heute im Idealfall sein kann: ein dialektisches Denkspiel.

Wieder am 19. und 28. Oktober, 19.30 Uhr

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