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Kultur: Deutschland, die Mitläuferfabrik

Emigranten, Remigranten: Ursula Krechels großes Geschichtsepos „Landgericht“.

Etwas Besseres als den Tod findestdu überall“: Den berühmten Satz aus Grimms Märchen von den Bremer Stadtmusikanten nimmt der Protagonist des grandiosen Geschichtsromans von Ursula Krechel als Hoffnungszeichen. Selbst in der Situation fürchterlichster Bedrohung, als im Berlin der dreißiger Jahre die Entrechtung der Juden immer brutalere Formen annimmt, klammert sich die Familie des jüdischen Juristen Richard Kornitzer an die Märchenweisheit der Brüder Grimm. Am Ende der bedrückenden Lebenserzählung, nachdem der Remigrant Kornitzer vergeblich um Wiedergutmachung gekämpft hat, ist es freilich ungewiss, ob sich der Satz aus dem Märchen wirklich verifizieren lässt. Denn in ihrer akribischen Rekonstruktion eines jüdischen Emigrantenlebens hat Ursula Krechel eine Vielzahl beklemmender Einzelheiten zusammengetragen, die alle von der fortdauernden Traumatisierung des Exilanten handeln, dem im Nachkriegsdeutschland der Boden unter den Füßen weggezogen wird.

In einer sehr symbolträchtigen Szene des Romans ist die Erfahrung absoluter Ohnmacht vorweggenommen. Im Sommer 1951 sitzt der kranke Schriftsteller Alfred Döblin elend in der Bahnhofshalle von Mainz, und alle Reisenden hasten an dem Mann vorüber, den sie als Bettler identifizieren. Döblin wird als völlig hilfloses Subjekt beschrieben, seine Hilferufe werden ignoriert. Er bleibt bei seinen Bemühungen so hilflos wie Krechels Protagonist, der nach seiner Heimkehr ins Nachkriegsdeutschland zwar seinen Beruf als Richter am Landgericht wieder ausüben kann, aber das Fortwirken des antisemitischen Geistes tagtäglich zu spüren bekommt. Ursula Krechel hat nicht nur ein exemplarisches Geschichtsepos über einen jüdischen Emigranten geschrieben, der die Jahre der Diktatur zwar überlebt, aber seine Familie verliert. Ihr völlig zu recht auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gelangter Roman ist auch eine beklemmende Alltagsgeschichte über die Lebenswirklichkeit im „Dritten Reich“ und über die missratene „Vergangenheitsbewältigung“ im restaurativen Nachkriegsdeutschland.

Richard Kornitzer wird als Justizassessor gleich nach der Machtergreifung Hitlers durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus dem Amt gejagt. Gemeinsam mit seiner Frau Claire, einer Protestantin, mit der er laut Nazi-Jargon eine „privilegierte Mischehe“ führt, versucht er sich in einem unauffälligen Alltagsleben einzurichten. Richard arbeitet fortan in einer Glühlampenfabrik, Claire sichert das Auskommen der Familie als Geschäftsführerin einer Firma für Kinowerbung, bis sie durch neue Verordnungen des Regimes ihr Unternehmen verkaufen muss. Als die Repressionen weiter zunehmen, entschließen sich Richard und Claire, ihre beiden Kinder Georg und Selma ins sichere England zu schicken. In allerletzter Sekunde kann Richard 1939 dem Zugriff der Nazi-Schergen durch seine Ausreise nach Kuba entkommen, wo er nach einer Weile als Sekretär bei einem Anwalt arbeitet. Das Leben der deutschen Juden unter immer neuen Pogromen, ihr Alltag im permanenten Ausnahmezustand und schließlich die Rettung der Kinder werden in großer Eindringlichkeit erzählt. Die Kapitel über die Exiljahre in Kuba liefern zudem ein Lehrstück über die dauernden Wechselbäder zwischen Hoffnung und Verzweiflung, denen die heimatlos gewordenen Flüchtlinge ausgesetzt sind.

Ursula Krechel folgt empathisch den Lebensspuren der Marginalisierten und skizziert dabei ein intensives Lebensbild des Heimatverlusts. In England verlieren die geretteten Kinder die Verbindung zu ihren Eltern, spätere Annäherungsversuche können die Entfremdung nicht mehr aufheben. Auch Kornitzer selbst trägt seinen Teil zum Zerfall der Familie bei. In Kuba verliebt er sich in eine junge Lehrerin, die aus dieser Beziehung hervorgegangene Tochter Amanda wird er aber erst am Ende seines Lebens kennenlernen.

Der letzte Teil des Romans handelt dann von den mühseligen Versuchen des Remigranten Kornitzer, nicht nur in seinen alten Beruf zurückzukehren, sondern auch Entschädigung zu erhalten für all die erlittenen Demütigungen. Vom Bodensee aus, wo er kurz in einer Spruchkammer arbeitet, gelangt er nach Mainz, dort wird er zum Landgerichtsdirektor berufen. Der Justizapparat ist aber damals noch fest in den Händen von Männern, die bereits im Führerstaat die Judikative beherrschten. „Wer dem Konzentrationslager entkommen war“, heißt es an einer Stelle sarkastisch, „wer aus der Emigration nicht wirklich angekommen war in dem Land, das er verlassen hatte, verschwand wieder sang- und klanglos, putzte sich selbst weg, aus Scham, aus Traurigkeit, aus Erbitterung, aus Ekel.“

So verheddern sich in der „Mitläuferfabrik“ in Nachkriegsdeutschland alle Eingaben, Appelle und Schriftsätze zugunsten des Landgerichtsdirektors im Getriebe einer juristischen Bürokratie. Die unorthodoxe Verlesung eines Grundgesetzartikels vor Beginn einer Verhandlung führt schließlich zum Ende seiner juristischen Karriere. Krechels unglücklicher Romanheld erfährt dabei die fortdauernde Geltung eines zwiespältigen juristischen Leitspruchs: „Quod non est in actis, non est in mundo“ – Was nicht in den Akten steht, ist nicht existent. Verbrechen, die nicht in Akten erfasst sind, können nicht verfolgt werden.

Ursula Krechel hat nun dieser skandalösen Geschichtsvergessenheit eine große Lebenserzählung entgegengesetzt, die sorgfältig noch die verborgensten Winkel der Nachkriegsgeschichte und ihrer Vergangenheitsflucht ausleuchtet. Es ist ein zwischen dokumentarisch verbürgten und fiktionalen Motiven oszillierender Roman über einen Emigranten, dessen Lebensgeschichte nie Eingang fand in einschlägige Geschichtswerke. In ihrem Anspruch auf schriftliche Beglaubigung einer Lebensgeschichte geht Krechel so weit, dem Leser auch die ödesten Schriftsätze in der Auseinandersetzung Kornitzers mit den verschiedenen Entschädigungsstellen zuzumuten. Resümierende Abkürzungen oder erzählerische Begradigungen dieses Emigrantenlebens hat sich die Autorin nicht gestattet. Aber genau in dieser erzählerischen Detailversessenheit liegt die große Stärke dieses Romans. In der epischen Errettung der Einzelheiten eines Lebens im Zeitalter der Extreme.

Ursula Krechel: Landgericht. Roman. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2012.

496 Seiten, 29,90 €

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