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Das Foto zeigt eine Demonstration am 27. Januar 1990 in Plauen.

© DPA/Kemmether

Deutschland, vereint in Depression: Wie der Stolz auf die Wiedervereinigung der Bitterkeit gewichen ist

Gerade junge Menschen halten in Ostdeutschland nicht mehr viel von Demokratie. War diese Entwicklung nach dem Herbst 1989 abzusehen? Ein Gastbeitrag.

Michael Schindhelm, 1960 in Eisenach geboren, lebt im Tessin. Er studierte in der UdSSR Quantenchemie, war Generaldirektor der Berliner Opernstiftung, später Kulturberater in Dubai, Hongkong, Singapur. Derzeit ist er Kurator für Dresdens Bewerbung um die Europäische Kulturhauptstadt 2025. Zuletzt erschien von ihm „Walter Spies, ein exotisches Leben“.

Seit Langem komme ich hierher nur noch zu Besuch, als Gastarbeiter. Neuerdings vor allem nach Sachsen. Bei den Landtagswahlen hat die Rentnergeneration die CDU gerettet (und damit die konventionelle Parteienlandschaft), während die Millennials zu fast einem Drittel für den Rechtspopulismus gestimmt haben. Viele Kinder der jungen Demokratie scheinen von ihr nicht viel zu halten. Die Manifestationen der Weltoffenen ändern daran offenbar nichts.

Der Herbst 1989 erscheint im Lichte der aktuellen Politik grau und blass. Erinnerungsroutinen bemänteln unglaubwürdig die aktuelle Depression. In Dresden untersuchte kürzlich eine Konferenz, ob der Osten kolonisiert worden sei. Auf dem Podium saßen Ostdeutsche, die seit dreißig Jahren Erfolg haben, und beklagten überwiegend das Unrecht. Bitterkeit hat den Anfangsstolz nach der friedlichen Revolution längst verdrängt.

Die Menschen scheinen insbesondere dank dieser Depression wiedervereint. Der Besucher in mir fragt sich, ob diese Entwicklung vor fünfundzwanzig Jahren nicht bereits absehbar war. Die Evolution der Enttäuschungen, die Einübung der Feindbilder. Der Mangel an Großzügigkeit gegenüber sich selbst und den Landsleuten im jeweils anderen Teil.

Der Besucher in mir hat das Bedürfnis, eine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte eines alternativlosen Deutschseins.

Die Bibliothek des Großvaters

Auch sie beginnt im November. Eine Kleinstadt an der Grenze zu Hessen. Im schwarzen Kanal das Kölner Konzert. Nicht Keith Jarrett, sondern Biermann. 1976. Ich war sechzehn. Der Reiz der Sechziger, in denen das Westfernsehen noch richtig verboten war, wich allmählich einer allabendlichen TV-Praxis. Doch diesmal versprach es wieder aufregend zu werden. Der Mann auf der Bühne redete und stritt sich zwischen den trotzig hingeklampften Songs ausgiebig mit dem Publikum über Sachen, die hier tabu waren: Mao, der Prager Frühling, der 17. Juni.

Der Sänger zitierte Hölderlin, „Hälfte des Lebens“. Nach den vielleicht eineinhalb Minuten, die er darauf verwendete, die vierzehn Zeilen in seinem bizarren Knödel-Stil vorzutragen, war für mich nichts mehr wie zuvor. Die Mauern stehen sprachlos und kalt, hatte er gesagt, im Winde klirren die Fahnen.

Wahrhaftig, die Mauern standen sprachlos und kalt. War das die Hälfte des Lebens? Was würde die andere Hälfte bringen? Noch am selben Abend suchte ich in der Bibliothek meines im Krieg gefallenen Großvaters nach dem Hölderlin-Band. Ich las „Hyperion“, um den es in dem Kölner Konzert ja gegangen war, las „So kam ich unter die Deutschen“ und darin den Satz über den Status der Dichter, die wie „Fremdlinge im eigenen Hause“ lebten.

Die DDR war nur eine schale Legende

Das eigene Haus befand sich in jenem November 1976 am verhärmten Ende des schwarzen Kanals. Hyperion und Biermann hatten dieses Haus, wenn auch unfreiwillig, verlassen. Für mich gab es vorläufig nur seine kalten sprachlosen Mauern und die klirrenden Fahnen auf dem Dach. Ich schrieb Verse und arbeitete mich durch meines Großvaters Bibliothek, von Hans Dominik zu Thomas Mann und Gottfried Benn. Meine persönliche Alternative zu DDR-Deutschland. Die andere Hälfte des Lebens. Ein einsames Gegenglück in einer vorerst behördlich vernachlässigten Nische des realexistierenden Sozialismus.

Der Blick auf die Heimat wurde skeptischer.
Der Blick auf die Heimat wurde skeptischer.

© DPA/Jens Wolf

Die Nische aus Büchern bot, was die DDR vorenthielt: eine Heimat. Ein Deutschland, das frei, aufregend, tragisch und manchmal sogar komisch war. So kam es, dass mich die Bibliothek meines Großvaters unter Deutsche brachte, in deren Gesellschaft ich mir weniger fremd vorkam als in der Schule. Die mich vertraut machte mit Jakob Fabian und Tonio Kröger, Zarathustra und Kara Ben Nemsi. Und je häufiger ich „Marmorklippen“ betrat oder mit dem Knaben durchs Moor irrte, auf den Straßen von Döblins Kopfberlin, umso mehr ersetzte diese Landschaft dichterischer Erfindung die Realität des Sozialismus.

Am Ende war die DDR eine schale Legende, des Großvaters Bibliothek hingegen, bereichert um die im Land verbotenen Zugänge, die ich unter der Hand erstanden hatte, die einzig überzeugende Wirklichkeit.

Die Wirklichkeit öffnet sich

Dann fielen die sprachlosen Mauern. Nach Jahren gerechnet genau in der Hälfte meines bisherigen Lebens. Der Engel der Geschichte brauchte nur zu zwinkern, und schon war es um die DDR-Fiktion geschehen. Doch verloren auch die Wirklichkeit der verbotenen Bücher und die darin versprochene Heimat an Überzeugungskraft, seitdem die ganze Pracht von Sigmund Freud bis zum Tibetanischen Totenbuch in Ladenregalen feilgeboten wurden. Seitdem das Verbotene nicht mehr verboten war, wurde es fremd. Dinglich. Kalt und sprachlos.

Ich kann nur für mich sprechen. Die eigentliche Entdeckung war der sich mächtig öffnende Raum hinter den Läden und ihren Hütern. Die neue Wirklichkeit des gemeinsamen Deutschlands war chaotischer und handfester, hastiger und zunächst berauschender nicht nur als die bleiche DDR, sondern auch als das Zuhause in der großväterlichen Bibliothek. Hatten bereits die Bücher zum Reisen eingeladen, so führten jetzt geografische Wege sowie jene der Sinne und des Erkennens bald weit über alle bislang vorstellbaren Grenzen hinaus.

Zugegeben, der Zauber, den der Westen ausgesandt hatte und der in den Anfängen nach 1990 fortwirkte, konnte nicht ewig halten, was er versprach. Nach ein paar Jahren verließ ich Deutschland, um, wie sich erst viel später zeigen sollte, nie wieder zurückzukehren. Einen Keinheimischen nannte sich die Hauptfigur Robert meines ersten Romans, im elften Jahr der zweiten Hälfte meines Lebens.

Von der Heimat verfolgt

Doch war ich im Irrtum. In Wahrheit folgte mir die Heimat, körperlos wie ein Schatten. Sie blieb nicht die ursprüngliche Idee Hyperions oder die aus der Bibliothek des Großvaters. Sie ordnete sich ein in einen widersprüchlichen Katalog von Ideen, die andere Menschen von den Deutschen und dieser Nation hatten und denen ich nun, da ich unter die Anderen gegangen war, nicht mehr ausweichen konnte. Meine Heimat-Idee wurde skeptischer, bescheidener. Nur an Schwere verlor sie nie.

Draußen hatte ich zu lernen, wie seltsam es ist, ein Deutscher zu sein. Als ich im Hörsaal einer sowjetischen Universität vor die Kommission trat, die meine Abschlussprüfung in Quantenchemie zu beurteilen hatte, gab mir eine Professorin, deren Bluse mit Orden der Roten Armee dekoriert war, die Botschaft an meine Landsleute mit – wir sollten nie vergessen, dass die Sowjetunion unbesiegbar sei. Die Stadt, in der ich fünf Jahre lang studiert hatte, war einst von der Generation meiner Großväter besetzt und zerstört worden.

Deutsch mit zwei Gesichtern

Zehn Jahre später löste ich am Theater das klassische Ballett zugunsten eines modernen Tanztheaters auf. Die Ballettfreunde in der Schweiz gingen aus Protest auf die Straße. Und da das Ballett an Montagen seinen freien Tag hatte, wurden die Demos montags abgehalten und Montagdemos genannt. Ich sah den Deutschen von nun an mit zwei Gesichtern: das aus helvetischer Sicht Großmaul aus dem Norden und den verunsicherten Ossi, der dem Großmaul schon nach 1989 zu Hause begegnet war.

Zehn weitere Jahre darauf setzte mir ein iranischer Geschäftsmann während einer hitzegetrübten Fahrt durch die emiratische Wüste in seinem Brabus auseinander, warum der deutsche Pass bei den Behörden seines Landes so viel höher im Kurs stehe als irgendein anderer westlicher Ausweis: schließlich hätten sich meine Vorfahren nach besten Kräften um die Abschaffung der Juden bemüht.

Sehen mit dem Blick der Anderen

Die Nachbarn in Nah und Fern, im Elsass und auf Bali, haben jeder seine eigene Idee von dieser Nation. Manche dieser Ideen sind unangenehm oder gefährlich, aber jede schärft die Sinne für die eigene Herkunft. Je länger ich aus Deutschland weg bin, umso mehr sehe ich dieses erfolgreiche, in sich gekehrte Land mit den Augen der Anderen. Fremd erscheint mir daher die Depression, aus der heraus sich hier erinnert, die Gleichgültigkeit, mit der vergessen wird.

Noch ein paar Jahre, und die Hälfte der Deutschen wird die Zeit der Teilung nur aus zweiter Hand kennen. Noch ein paar Jahrzehnte, und niemand wird mehr dabei gewesen sein. Das Verblassen der Geschichte, die vor dreißig Jahren einen so unerwarteten Ausgang genommen hat, hilft jenen Demagogen, die ihre Ideen als neu maskieren, obwohl sie grausam alt sind. Zum Beispiel die von einem alternativen Deutschsein. Es gibt wieder Fronten, die marschieren. Und der despotische Klang, der die erste Hälfte meines Lebens begleitet hat, ist zurück: das Klirren der Fahnen.

Michael Schindhelm

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