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Kultur: Deutschland sucht den Sonderweg

80 Prozent der Deutschen sind gegen George Bush: Ist das die Geburtsstunde einer neuen nationalen Identität? Deutschland sucht

Am vergangenen Samstag ging der typische Deutsche am Vormittag zur Friedensdemo und abends ging er ins Kino. Der neue deutsche Kinohit heißt „Good Bye, Lenin!“. Ein versöhnlicher Film. Er hat Verständnis für die DDR-Nostalgie, Verständnis für die Wessis, für Dagebliebene und Weggegangene, Verständnis für alles. Er ist Balsam für die deutsche Seele, im Osten wie im Westen. Ost oder West, das spielte bei der Demo und im Kino überhaupt keine Rolle mehr. Das Land war ein Wochenende lang kulturell vereint. Das war historisch wahrscheinlich wichtiger als die Oderflut, wo die einen „Opfer“ waren und die anderen „Helfer“.

Zwei soziale Experimente: Ein Bekannter lief ein paar Tage mit einem Sticker herum, der die deutsche Fahne und die US-Fahne zeigt, beide schwesterlich ineinander verschlungen. Er wurde pausenlos angepöbelt. Obwohl der Sticker doch alles Mögliche bedeuten kann. Aha, dachte der Bekannte: Antiamerikanismus. Kommt das vierte Reich? Hat Henryk M. Broder doch Recht? Dann zog er sich um. Er trägt jetzt einen Bundeswehrparka mit Deutschlandfahne auf dem Ärmel. Reaktion des Publikums, in der U–Bahn und in Szenekneipen: unfreundliches Entsetzen. Broder scheint doch nicht ganz Recht zu haben. Es muss irgendwie komplizierter sein.

Die Bundeswehr ist neben der Schweizergarde wahrscheinlich die friedlichste Armee der Welt. Eine Taubenzüchtertruppe. Unvergesslich sind die Fernsehreportagen über die wackere „Mecklenburg-Vorpommern“, die vorm Horn von Afrika kreuzt und Jagd auf Waffenschmuggler macht. Bevor sie ein Schiff durchsuchen, fragen sie höflich an. Falls der Schmuggler zur Durchsuchung „Nein“ sagt, was ein kluger Schmuggler in der Regel tut, antworten sie sinngemäß: „Schade. Dann nichts für ungut. Tschüss.“ So ist die Bundeswehr. Die deutsche Fahne ist weltweit ein Symbol dafür geworden, dass man keiner Fliege etwas zuleide tut. Ist die Berlinale schon vergessen? All die Regisseure, die sich bei Deutschland für seine Antikriegshaltung bedanken? War das etwa kein schönes, warmes Gefühl? Könnte man da nicht stolz sein und einen Bundeswehrparka anziehen? Dustin Hoffman würde es tun.

80 Prozent der Deutschen sind gegen George W. Bush. Interessant ist, wer nicht dazu gehört. Eine Erklärung gegen die Friedensdemonstration haben unter anderem Ralph Giordano und Michael Wolffsohn unterzeichnet, zwei prominente jüdische Deutsche. Als eines ihrer Motive nennen sie die Bedrohung Israels durch Saddam Hussein und die Erinnerung an Hitler. Es stimmt, dass man Dauermahner wie Giordano nicht mehr ganz ernst nimmt. Aber es bleibt die Tatsache, dass hier an einer ziemlich sensiblen Stelle ein Riss entsteht. Und das ist tragikomisch.

Wir leben in einem unauflösbaren Widerspruch. Einerseits sollen und wollen wir ein normales Land sein. Andererseits sollen und wollen wir immer an Hitler denken. Aber beides zusammen geht nicht. Ein normales Land denkt nicht dauernd an Hitler. Das ist die ironische Pointe der gegenwärtigen Situation: Die Bush-Amerikaner und etliche jüdische Deutsche verlangen, dass Deutschland einen Teil von dem vergisst, was es mühsam gelernt hat. Ein anderes Land mit Krieg zu bedrohen – Leute, das geht wirklich nur, wenn wir unsere in aller Welt bewunderte Friedfertigkeit mal für eine Weile vergessen. Das heißt, wir öffnen die Büchse der Pandora, wo die Dämonen der Vergangenheit eingesperrt sind. Sollen wir das? Wollen Sie das wirklich, Herr Giordano? Sie müssen sich entscheiden, beides zusammen, Pazifismus und Kreuzzug, kriegen Sie nicht. Man kann das deutsche Tschingderassabumm nicht an- und ausschalten wie eine Lampe.

Vielleicht ist dies die Geburtsstunde einer neuen nationalen Identität. Deutschland befreit sich endgültig von der Bevormundung durch die einstigen Siegermächte. Wir waren wie Kinder. Für alle wichtigen Dinge waren Amerikaner und Russen zuständig. Wir werden erwachsen, aber im Moment herrschen noch ein paar pubertäre Irrtümer. Lange haben wir unter dem militärischen Schutz der Amis und der Knute der Russen gelebt und alles Militärische, die Interessenpolitik, alles Harte und Böse einfach delegiert. Und jetzt denken wir natürlich, es könnte so weitergehen.

Wenn wir aber ausziehen bei Mama Amerika, müssen wir selber Miete zahlen und werden merken, wie hart das Leben da draußen ist, bei den brutalen Saddams, den undurchschaubaren Putins und den schlauen Chiracs. Was wollen wir zum Beispiel tun, wenn irgendein Verrückter, von innen oder außen, sich Deutschland unter den Nagel reißen möchte? Sagen wir es ruhig, unser Zauberwort: ein neuer Hitler? Da wird wohl unsere liebe Bundeswehr mit ihren Hellebarden eingreifen müssen. Denn wir haben unsere historische Lektion gelernt, nicht wahr, wir verteidigen Freiheit und Demokratie. Damit die Bundeswehr das kann, müssen wir eine Menge Geld in sie hineinstecken. Wenn Deutschland sich also aus edler pazifistischer Gesinnung von den USA distanziert, muss es aufrüsten. Dann sieht es nicht mehr ganz so lieb aus. Dann hat es Pubertätspickel.

Das Kind knallt den Eltern die Tür vor der Nase zu und hängt mit genau den Typen herum, vor denen die Eltern immer gewarnt haben. In unserem Fall sind das Russland und China, die neuen außenpolitischen Partner. Aber wir können gar keine Antiamerikaner sein. Dazu sind wir selber viel zu amerikanisch. Sogar unser Identitätsstiftungs-Film hat einen englischen Titel: „Good Bye, Lenin“.

Wie sind wir überhaupt in diese Lage gekommen – Deutschland als Speerspitze des antiamerikanischen Widerstands? Durch Gerhard Schröders Populismus. Erinnert sich noch jemand, mit welchem anderen Politiker Schröder in seiner ersten Kanzlerzeit besonders gerne verglichen wurde? Es war Bill Clinton. Schröder galt als ein besonders amerikanischer Deutscher. Weil er ideologisch so wenig festgelegt war, so telegen und volksnah. Schröder gegen Bush, das ist fast wie Clinton gegen Bush. Anders gesagt: Weil Schröder den amerikanischen Politikstil verkörpert, steht er heute gegen die Politik der USA. Verrückt, nicht wahr.

Und das Fazit? Obwohl es viele Friedensdemonstranten nicht wahrhaben wollen, verlässt Deutschland gerade das Reich der Un- schuld. Wir führen Krieg oder helfen indirekt einem Massenmörder. Beides nicht schön. In Zukunft werden wir Interessenpolitik betreiben, mit fragwürdigen Partnern zusammenarbeiten, lügen und taktieren, wahrscheinlich eine stärkere Armee haben, all diese normalen Dinge, die ein mittelgroßes Land tut. Manchmal wird man das Land mögen, manchmal es hassen. Vielleicht lernen wir sogar, nicht mehr ständig an Hitler zu denken. Das, Herr Giordano, wäre dann das Ende des deutschen Sonderweges.

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