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Kultur: Deutschland vor einer bewegten Zukunft

Wir werden älter, wohlhabender und besser informiert - und fragen dennoch nach dem Sinn des LebensHeik Afheldt Nach fünfzig Stationen kehrt Odysseus nun heim. Fünfzig mal haben Autoren sich auf das Abenteuer Zukunft eingelassen, ihre Bilder von dem gemalt, was uns auf der Reise durch die Zeit im 21.

Wir werden älter, wohlhabender und besser informiert - und fragen dennoch nach dem Sinn des LebensHeik Afheldt

Nach fünfzig Stationen kehrt Odysseus nun heim. Fünfzig mal haben Autoren sich auf das Abenteuer Zukunft eingelassen, ihre Bilder von dem gemalt, was uns auf der Reise durch die Zeit im 21. Jahrhundert erwarten mag, Sirenengesänge und gefährliche Passagen, blühende Landschaften, lange und gesundere Leben oder eine Welt voller Glück. Viele Gefahren am Wege und verlockende Verheißungen. Was finden wir wirklich vor, wenn wir nach zwanzig oder dreißig Jahren auf unseren Planeten und auf das Treiben auf seiner Oberfläche schauen? Wie ernst darf man die Zukunftsbilder eigentlich nehmen?

Die Neugier auf die Zukunft hat eine lange Vergangenheit. Seit eh und je wollten die Menschen wissen, was auf sie zukommt. Ob sie zum Orakel von Delphi wanderten, um sich von Pythia die Zukunft entschleiern zu lassen, ob sie den Schriften Nostradamus (Centuries) von 1558 glaubten, ob sie in ihren Träumen nach der Wahrheit von morgen suchen wie Josef, als er die sieben schlechten Jahre für Ägypten voraussah, ob sie ihr Geld zu Wahrsagerinnen tragen, um sich die Karten legen zu lassen oder zu ihren Finanzberatern, die satte Renditen prognostizieren - alle sind sie voller Neugier auf das, was sie in Zukunft erwartet. Und gleichzeitig haben sie Angst, etwas Unerwünschtes oder gar Schreckliches zu erfahren. Deshalb pflegt jeder - als persönliche Rückversicherung gegen "bad news" - eine gehörige Dosis Skepsis gegenüber der Vorhersehbarkeit der Zukunft für den Fall, dass eine Weissagung lieber nicht eintreffen sollte.

Was können Prognosen wirklich leisten? Haben die Zukunftsforscher bisher mehr geirrt als ins Schwarze getroffen? Haben sie rechtzeitig Signale gesetzt, Denkanstösse für die Gestaltung unserer Zukunft gegeben? Haben sie die Welt zum Guten verändert?

1984 hat Carl Friedrich von Weizsäcker in einem Festvortrag "Gedanken für morgen" (in: "Bilder einer Welt von Morgen, Modelle bis 2009",Prognos-Forum Zukunftsfragen, Stuttgart 1985) zwei für viele überraschende Gedanken formuliert. Der erste: Nicht nur die Zukunft sei unsicher, auch die Vergangenheit sei es. Denn noch heute streite man über die wirklichen Gründe für die Weltwirtschaftskrise oder die Kriegsausbrüche. Und nehmen wir nicht gerade jetzt erstaunt zur Kenntnis, dass die Wirkungen der Nato-Bombardements in Jugoslavien viel geringer waren als stolz verkündet? Die gesamte Vergangenheit ist offenbar voller "Phantompanzer". Und doch müssen wir sie als einigermaßen sicheres Glacis nehmen, von dem aus wir die Zukunft erkunden und beschreiben.

Weizsäckers zweiter Punkt berührte die Reaktionen auf Katastrophen-Szenarien: "In dem Feld, in dem meine eigenen prognostischen Bemühungen liegen (das waren Aussenpolitik und Kriegsverhütung) erschrecke ich über meine Prognosen". Und er fuhr fort: "Ohne den Schrecken denkt man nicht über die richtigen Fragen nach." Und es stimmt, wenn wir keine Prognosen wagen, wissen wir nicht, was wir nicht wollen.

Was waren damals, 1984, die Gründe für ein Erschrecken? Der große Atomkrieg lag wie ein ständig dräuender Albtraum über der Menschheit, die globale Umweltkrise ängstigte auch nüchtern Denkende, und die scheinbar ausweglose Nord-Süd-Problematik machte Fachleute und Laien ratlos. Dazu kamen Sorgen über die Bevölkerungsexplosion und die zunehmende Knappheit an nicht erneuerbaren Ressourcen und Energie.

Welche von diesen Sorgen waren wirklich berechtigt, was ist heute - befördert durch rechtzeitiges Prognostizieren - kein drängendes Problem mehr, welche Probleme warten noch immer vergeblich auf Lösungen und - am spannendsten - welche Perspektiven hat Deutschland heute am Beginn des Jahres 2000?

Demographie: Alle reden heute vom demographischen Faktor. Auf keinem Gebiet sind Prognosen so treffsicher wie auf dem der Bevölkerungsentwicklung. Am 9.Oktober 1999 erreichte die Zahl der Menschen auf dieser Erde 6 Milliarden. Vor 35 Jahren,1965, als es erst 3,35 Mrd. waren, hat Herman Kahn für 2000 6,4 Mrd. Erdenbürger vorhergesagt. Nahezu eine Punktlandung. Selbst die langfristigen Bevölkerungsprognosen für Deutschland West und Ost haben die Entwicklung extrem genau getroffen. Auch in Zukunft darf man sich auf derartige Prognosen selbst über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten verlassen.

Weniger treffsicher als die Prognosen selbst waren die Voraussagen über die erwarteten Folgen. Überbevölkerung, Hungerkatastrophen (Malthus-Hypothese) und ökologische Überlastungen wurden von vielen befürchtet. Große Wanderungsströme aus den armen Südländern würden über die reichen OECD-Länder hereinbrechen. Das alles ist bis heute noch nicht oder nicht in dem befürchteten Ausmaß geschehen. Akut geworden aber sind die Folgen einer stark schrumpfenden und kinderärmeren Bevölkerung in den satten Industrieländern wie Deutschland oder Frankreich. Bisher hat noch keines dieser Länder die wirklich tauglichen Antworten für seine Systeme der Altersvorsorge gefunden.

Wirtschaft und Arbeitsplätze: Die Zukunftsforscher haben die anhaltend hohen Wachstumsraten und die völlig veränderten Strukturen der Volkswirtschaften sehr zutreffend vorausgesagt. Die expansiven Dienstleistungen, der anhaltende Krebsgang der Landwirtschaft als Arbeitgeber, der relative Rückgang der Bedeutung des Produzierenden Gewerbes, die starken Änderungen des Privaten Konsums, immer weniger Ausgaben für Nahrungsmittel und Bekleidung, für Waren also und immer mehr für Dienste jedweder Art, der enorm angestiegene Wohnflächenbedarf, die Entwicklung der Mobilität und des PKW-Parks, die großräumigen Standorttendenzen. Im großen und ganzen alles richtig voraus gesehen.

Was lehrt uns dieser Blick zurück "ohne Zorn"? Sprüche darüber, dass alle Prognosen falsch seien, vor allem über die Zukunft, sind immer wieder einen Lacher wert - Churchills Satz über den günstigsten Zeitpunkt für Prognosen (nämlich nach dem Ereignis) oder das Bonmot "Alle irren, aber Prognos irrt präziser". Aber das alles ist schlicht dumm oder falsch. Die Treffsicherheit von längerfristigen Prognosen im Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft ist erstaunlich groß. Das trifft vor allem für die großen autonomen Trends wie Demographie, die Produktions- und Konsumstrukturen und selbst den Wertewandel zu.

Weitaus schwieriger sind allerdings Prognosen von Systemen, in denen Politik erkennbare Entwicklungen zu ändern versucht. Zwei klassische Systeme, in denen es nicht an Erschrecken, aber an wirksamen Remeduren gefehlt hat, waren und sind der Verkehr und der Arbeitsmarkt. Im einen Fall hat man im wesentlichen vor der explosiv zunehmenden Mobilität kapituliert - und die Verkehrswege "bedarfsgerecht" ausgebaut. Im Fall der Arbeitsmarktpolitik war die Konsequenz in Deutschland nicht, nach Wegen einer expansiven Beschäftigungspolitik zu suchen. Man hat vielmehr durch expansiven Ausbau der sozialen Auffangnetze für Arbeitslose das Problem "sozialverträglich" gemacht. Auch eine Kapitulation und keine Heilung; die kranken Organe wurden nur ruhiggestellt.

Dabei kam die Arbeitslosigkeit nicht überraschend. Sie war schon das Thema wichtiger Tagungen 1982 unter dem Titel "Geht uns die Arbeit aus ?"(Hannah Arendt). Da lesen wir: "Seit Jahren weisen die Arbeitslosenziffern in den westlichen Industrieländern einen hartnäckigen Trend nach oben auf. Offizielle Arbeitslosenquoten erreichen in einigen Volkswirtschaften die 10 Prozent-Marke. Mehr als 30 Millionen Menschen in den Ländern der OECD sind arbeitslos. Vorausschätzungen zeigen weitere drohende Zunahmen." Die Antworten von damals sind - horribile dictu - auch heute noch von unveränderter Aktualität: Flexiblere Arbeits- und Beschäftigungsstrukturen, neue Organisationsformen, neue rechtliche und soziale Rahmenbedingungen. An treffenden, richtigen und "erschreckenden" Prognosen hat es also so wenig gefehlt wie an treffenden Antworten, wie die drohenden Fehlentwicklungen vermieden werden können. Aber sie sind - zumindest in Deutschland - bis heute an den Lobbys falsch verstandener Interessen abgeprallt.

In den letzten dreißig Jahren folgten dann die anregenden Prognosen für die bahnbrechenden neuen Technologiefelder wie Information und Kommunikation, die neuen Biotechnologien oder neue Werkstoffe, die fast alle so verkehrt nicht lagen. Oft stimmten nur die Zeitangaben nicht so recht. Manches kam viel langsamer als erwartet wie die schnelle Magnetschwebebahn Transrapid, anderes viel, viel rascher, wie die Handys.

Die Sozialsysteme und die Sozialpolitik dagegen wurden erst relativ spät - mit den steigenden Ausgaben - ein Feld politischer Aufmerksamkeit und prognostischer Anstrengungen. Für viele war das Thema damals noch nicht wirklich aktuell - erstaunlich, weil jeder, der nur wollte, die Probleme mit der Überalterung der Bevölkerung und den "süßen Versuchungen", die von einem weit gespannten Sozialnetz ausgehen, hätte erkennen können. So ging es mit vielen der Themen, die von den Zukunftsforschern auf die Agenden gesetzt wurden. Die oft unendlich langsame Reaktionszeit bei wichtigen gesellschaftlichen Problemen ist erschreckend.

Aber diese traurige Bilanz gilt glücklicherweise nicht für alle Politikfelder. Anfang der 60er Jahre begannen in Deutschland mit dem Städtebauförderungsgesetz die Bemühungen um schönere, autofreie Stadtkerne, um neue automatische Verkehrssysteme, um integrierte Stadtentwicklungskonzepte. Was ist auf diesen Gebieten in Europa in wenigen Jahrzehnten alles Erstaunliches geleistet worden! Ähnlich in der Umweltpolitik. Nur Böswillige können bestreiten, dass es zu einer regelrechten Wende im Bewußtsein der Menschen gekommen und die Belastungen (Stäube, Blei, SO 2) in vielen Bereichen nachhaltig reduziert worden sind. Man denke nur daran, wie brav heute jeder seine verschiedenen Abfall-Säckchen füllt und entsorgt. Prognosen haben zu diesen "guten Befunden" einen wichtigen Beitrag geleistet.

Deutlich gewandelt haben sich mittlerweile auch die Instrumente, mit denen versucht wird, die Zukunft auszuleuchten. Auch die Ansprüche der Konsumenten von Prognosen sind gewachsen. Mehr oder weniger naive lineare Extrapolationen wurden ersetzt durch Modelle, in denen Politiker eingreifen und die Entwicklung beeinflussen können, "policy sensitive models". Als diese Modelle an ihrer Komplexität zu explodieren drohten, kamen die "weichen Modelle" zur Welt. Es begann in den 70er Jahren die Zeit der Märchenerzähler, der Scenario-Schreiber: Zukunft zum Anfassen, nicht immer konsistent, aber anregend. Soziale Systeme waren als Wolkensysteme entdeckt, nicht als Uhrensysteme (K. Popper). Die Chaostheorie führte schliesslich heraus aus der Welt der linearen Funktionen. Zuletzt half die Fuzzy Logic aus der Falle der unerfüllbaren Genauigkeiten bei der Abbildung von Systemen herauszufinden und die Vorteile der Unschärfe auch für die Prognostiker zu nutzen.

Bei aller Begeisterung über Treffer bleibt besonders interessant, was denn die Zunft der Zukunftsforscher trotz ihrer neuen ungleich mächtigeren Werkzeuge (von der Monroe zum Think Pad) gar nicht oder nicht rechtzeitig und richtig vorausgesehen hat

Die Entdeckung der Antibabypille etwa und aller revolutionären Folgen, die sich daraus für die sozialen Strukturen, die Emanzipation der Frauen, den Rückgang der Geburtenzahlen ergeben haben.

Die viel raschere Überwindung der absoluten, nicht der relativen Armut in grossen Teilen der Welt. (Südostasien)

Den Zusammenbruch der Sowjetunion und des Comecon, den Fall der Mauer und die deutsche Wiedervereinigung.

Das Internet mit seinen unermesslichen Folgen für nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens.

Tschernobyl und Aids.

Das wirkliche Ausmaß der Folgen der Liberalisierung in den Feldern Telekom, Strom u.a.

Diese scheinbar ganz heterogenen Tatbestände belegen im Grunde unsere mangelhafte Phantasie und unsere Selbstkastrierung beim Umgang mit Zukunft. Nur wer diszipliniert in alten Mustern denkt, wird zunächst ernst genommen. Das erinnert an die IBM in den 60er und 70er Jahren, die sich in den selbst auferlegten Planungsalgorithmen gefangen hatte. Was nicht ins Planungsmodell der Mainframe-Welt passte, wurde einfach als irreal ausgeblendet, unter anderem die Morgenröte der PCs. Aber ex post gesehen, war keines dieser Ereignisse "undenkbar" und unwahrscheinlich.

Was lehrt uns das beim Blick nach vorne über die Jahrtausendschwelle? Das magische Datum 2000 hat eine wahre Flut von mehr oder minder anregenden Szenarien für das nächste Jahrhundert und seine ersten 10 bis 20 Jahre gebracht. Die Zukunft ist sozusagen wohlfeil - und scheinbar so transparent wie selten zuvor. Was fällt bei der Lektüre dieser vielen Zukünfte an Gemeinsamkeiten besonders auf?

1. Anders als früher fehlen die richtig düsteren Prognosen. Es sind fast nur "gute Welten" am Horizont, mal etwas mehr Wohlstand, mal etwas weniger, mal etwas mehr Muße, mal wieder mehr Arbeit, mal mehr Markt, mal mehr Politik. Eine Ausnahme machen viele Auguren bei der befürchteten weltweiten Klimakatastrophe und der Bedrohung durch den islamischen Fundamentalismus oder terrorristische Organisationen.

2. Der anhaltend "rasende Wandel" fast aller Strukturen, in und von denen wir leben, mit zwei recht wahrscheinlichen Konsequenzen: Um die Zukunft rechtzeitig zu entdecken, müssen wir noch innovativer mit ihr umgehen, weil sie immer schneller auf uns eindringt (Schneeflocken im Scheinwerferlicht). Dafür haben wir zwar heute auch ungleich bessere Instrumente und unendlich umfassendere und aktuellere Informationen, um verschiedene Zukünfte abzubilden und interaktive Werkzeuge, um Reaktionen der Menschen frühzeitig kennenzulernen. Aber es nimmt die Komplexität auch weiter erheblich zu. Folgerung: Das, was uns an prognostischer Präzision fehlt, müssen und können wir durch tolerantere, unschärfere Planungssysteme und flexiblere Reaktionen kompensieren.

3. Die offizielle Wirtschaft wird vermutlich nach weiteren 20 oder 30 Jahren recht anders aussehen als heute. Eine Vielzahl neuer, immer naturnäherer Hochtechnologien wird neue sinnvolle Produkte entstehen lassen (neben vielen unsinnigen) und ganz neue Prozesse auslösen, an anderen Standorten als heute. Damit steht der gesamte Kapitalstock vor einer grundlegenden Modernisierung. Für qualitatives und quantitatives Wachstum ist also auf absehbare Zeit gesorgt.

4. Der Wohlstand wird für einen großen Teil der Weltbevölkerung noch weiter kräftig wachsen. Deutschland zählt zu den Reichen dieser Erde, die alle Chancen haben noch wohlhabender zu werden. Und sogar Berlin wird nach 20 Jahren eine Neuauflage der "roaring twenties" erleben. Die Post geht schon heute ab - nur ist sie noch nicht überall angekommen. Aber ein anderer neuer Graben droht quer durch die Gesellschaften zu gehen: Er trennt diejenigen, die mit den Informations- und Kommunikationsnetzen "verdrahtet" sind von denen, die keinen Anschluss finden.

5. Die Vollzeitanstellung wird zu einem Auslaufmodell. Immer häufiger ist der Arbeitgeber nicht mehr gleichzeitig auch der, für den jemand tätig wird (Leiharbeit). Wir werden in Deutschland 2020 vielleicht noch 1200 Stunden im Jahr arbeiten, unregelmäßig, und nicht mehr lebenslang in einem Job.

6. An ihren Rändern franst die offizielle Wirtschaft, immer mehr aus in die Schattenreiche der informellen Wirtschaft. Für die Finanzminister dieser Welt bricht eine Zeit an, in der es immer mehr Steuerflüchtige geben wird. Wir müssen uns auch deshalb Gedanken darüber machen, welche Aufgaben wir eigentlich noch zu öffentlichen Aufgaben erklären wollen - und aus einem relativ kleineren Fiskalaufkommen auch finanzieren können.

7. Das Problem der Arbeitslosigkeit haben bis dahin sogar die Deutschen gelöst. Wie das? Sie haben eines Tages (vielleicht ja schon unter der Ägide von Gerhard Schröder?) beschlossen, nicht mehr nur von den interessanten Modellen in Holland, der Schweiz oder Großbritannien zu reden, sondern sie einfach einmal auszuprobieren.

8. Die Unlust an eigenen Kindern und die kräftige Zunahme der Zahl der älteren Mitbewohner wird auf absehbare Zeit anhalten. Wir werden in unseren Ländern neue Freude an unseren vielen Alten entwickeln müssen. Statt sie nur anständig zu versorgen (manche meinen, dass könnten vor allem Roboter tun) und dann zu entsorgen, könnte man sie auch wieder richtig mitspielen lassen im globalen Sandkasten. Alles spricht bei uns für längere statt kürzere Lebensarbeitszeiten. Ein längeres und gesünderes Leben ist das Versprechen einer neuen Humangenetik, einer weiterentwickelten und besser organisierten Medizin und weltweit zugänglicher Organbanken.

9. Bei Licht besehen sind wir auf einem vielversprechenden Weg in eine neue Form des "Sozialismus" und des Gemeineigentums. Amerika ist da sogar schon weiter - zu einer Wirtschaft mit immer mehr "volkseigenen Betrieben". Dort gehören schon große Teile der "shares" dem Volk - direkt oder über Pensionsfonds. Die dritte Säule der Alterssicherung trägt so künftig kapitalistische und sozialistische Merkmale nebeneinander.

Das alles gilt auch für dieses Land, für Deutschland. Es sind dies säkulare Trends, denen auch wir hier im Herzen Europas nicht entfliehen können. Viel Unruhe und eine Unmenge von Veränderungen erwarten uns im neuen Jahrtausend

Die Wachstumsperspektiven für die nächsten 20 Jahre liegen mit durchschnittlich knapp 2 Prozent nicht schlecht. An Arbeitsplätzen wird es weiter mangeln. Aber knapp werden die qualifizierten Mitarbeiter, von denen in der Softwarebranche schon heute Tausende fehlen. Die Alterung und der Rückgang der Bevölkerung stellen die Systeme der Alterssicherung vor eine ungeheure Probe. Gleichzeitig explodiert das Gesundheitssystem. Deutschland wird ein richtiges Einwanderungsland - und Berlin liegt da ausnahmsweise einmal an der Spitze. Ein Grund ist die Osterweiterung, die im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts abgeschlossen sein wird.

Zum Schluss stellt sich wieder die interessante Frage, was wir denn voraussichtlich wieder nicht voraussehen werden.

Vielleicht ist Peter Sloterdijks "Menschenpark" eines der uns in seinem ganzen Ausmass noch verborgenen Reiche. Was machen die Menschen mit ihrem neuen Vermögen, in die Erbmasse einzugreifen und so Menschen nach ihren Phantasien zu züchten? Hilft hier ein Kodex, die aktive Neugier der Wissenschaftler und Mediziner wirkungsvoll zu kanalisieren? Wer soll diesen Kodex aufstellen, wer seine Einhaltung überwachen? Was passiert, wenn diese Büchse der Pandora aufgeht? Ist das dann das ewige Leben für alle? Oder nur für die Reichen? Oder die Frage: Behalten wir die Lust am Produzieren, oder entwickeln sich unsere reichen Länder, zu hedonistischen Nichtstuern, die die Herstellung der lebensnotwendigen Güter ihren Heloten in den Ländern der Dritten Welt oder auch bei sich zu Hause überlassen, während sie sich der Kunst, der Muße und der Lust widmen und ihre Gesundheit pflegen?

Und schliesslich ein besonders großes Fragezeichen: Wer sorgt sich um die Sinnstiftung in unserem Wohlleben? Wer in der Gesellschaft, welcher Sektor der neuen Wirtschaft produziert Sinn? Der Japaner Masuda kennt in seiner quartären Wirtschaft eine "ethische Industrie". Sind das die Sekten, die alten Religionen, der Islam oder andere Heilsbringer? Landet ein neuer Messias vielleicht doch mit einem der Geräte von Däniken demnächst bei uns auf der Allmend - oder wir dort oben irgendwo? Juni 2018: Auf zum Mars. Davon ist zumindest der Astronaut und Physiker Franklin Chang-Diaz überzeugt. Es werden Menschen zum Mars fliegen, weil im Menschen etwas drin ist, das jedem Roboter abgeht: Der Drang nach Erforschung und Abenteuer.

Lächerliche Fragen, unrealistische Ideen? Vielleicht. Aber vergessen wir nicht: Die Zukunft wurde immer aus zwei Zutaten gebraut, aus unerwartet stabilen Verhaltensweisen und aus unerwartet neuen Entwicklungen.

Heik Afheldt

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