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Ewige Herausforderung. Das Theater tut sich schwer mit „Faust“ – und kann nicht von dem Riesenwerk lassen. Der Regisseur Nicolas Stemann hat jüngst versucht, beide Teile in eine Spielfassung zu bringen. Die Koproduktion der Salzburger Festspiele und des Hamburger Thalia-Theaters mit Philipp Hochmair gastierte jetzt beim Berliner Theatertreffen. Foto: dapd

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Dichter und Banker: ... und leider auch Ökonomie

Frankfurt ist die Stadt Goethes – und Finanzen. Sein „Faust“ wird jetzt zum Krisenhelfer. Wie man mit einem Klassiker die Nerven behält.

Habe nun, ach. „Faust“ ist das moralische Lehrstück der Deutschen schlechthin. Von Schelling und Hegel zur nationalen „Weltbibel“ gekürt, wurde die Tragödie zum Zitatentrauma und Gemeinschaftserlebnis, das Lehrer mit Schülern, Dichter mit Politikern oder Publizisten mit Wirtschaftsbossen verbindet. Vor allem in Zeiten existenzieller Bedrängnis fand (und findet) man Trost in den 12 000 Versen. Der „Tornisterfaust“ gehört zwar nicht mehr zum Marschgepäck deutscher Soldaten, doch zur Linderung von Seelennot und Krisenangst taugt er immer noch.

Derzeit sind der deutsche Dichterfürst und seine mythologische Hauptfigur in erster Linie als Finanzexperten gefragt. Die Stadt Frankfurt zum Beispiel hat für ihre im Herbst geplante Festwoche „Goethe und das Geld“ gleich drei verschiedene „Faust“-Inszenierungen angekündigt. In einer ihrer letzten Amtshandlungen erklärte Oberbürgermeisterin Petra Roth: „Als Goethe-Stadt haben wir einen besonderen Auftrag, den Dichter und seine Wirkung lebendig zu halten.“

Wie schon bei Peter Steins faustischem Mammutprojekt im Jahr 2000 ist auch diesmal die Deutsche Bank AG der wichtigste Sponsor. Vorstandsmitglied Jürgen Fitschen hat eine „mittlere sechsstellige Summe“ versprochen. Für den Banker ist „Faust“ ein „hochaktuelles Stück“, das sich dynamisch mit dem „Problem Wachstum“ befasst. Die linke Politikerin Sahra Wagenknecht hingegen fordert in der „FAZ“ energisch: „Schluss mit Mephistos Umverteilung!“ Durch Goethes Darstellung einer „zutiefst korrupten Gesellschaft“, die sich mit „ungedecktem Papiergeld“ versorgt, fühlt sie sich an Ursachen und Folgen der gegenwärtigen Finanzkrise erinnert.

In der Tat gibt es verblüffende metaphorische Parallelen. Vor allem die brutale Beseitigung der dem „Fortschritt“ im Wege stehenden mythologischen Figuren Philemon und Baucis erscheint wie ein Menetekel für aktuelle „Strukturreformen“ in Griechenland. Ovid lässt die Hütte der beiden Alten vergolden, Goethe verbrennt sie. Doch trotz moderner, imperialer Geste ist Faust kein „Global Player“, für den ihn inzwischen die zeitgeistige Germanistik hält.

Faust ist auch kein Ökonom, den man vom idealistischen Kopf auf die materialistischen Füße stellen kann. Auch Karl Marx , der das Werk Goethes wie ein antikes Kulturgut verehrte, vermochte das „faustische Streben“ nur schwer als historische Produzentenleistung einordnen, die gemäß seiner Logik als „unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen“ erkennbar gewesen wäre. Das von Goethe dargestellte „Streben“ des Heinrich Faust hat – anders als die Magie des Johannes Faust in den Volksbüchern – wenig gesellschaftliche Bodenhaftung. Auch im Vergleich zu anderen Heldengestalten der europäischen Dramenliteratur – wie zum Beispiel Hamlet – erscheint Goethes Faust als absolutes Individuum, das in einer geschlossenen Eigenwelt agiert. Der Kern des Teufelspakts ist die Beschränkung auf die geistige Immanenz und die Perspektive höchster Lustmöglichkeit: eine Beschränkung, die der Tauschpreis für die geliehene Omnipotenz ist.

Im zweiten Teil von Goethes Dichtung sehen wir Faust mit Potenzen ausgestattet, die die Misere von Staat, Gesellschaft und Naturbeschränkung überwinden könnten, wenn Herrscher und Volk sie nützen würden. Das dynamisch-dämonische Verhältnis von Faust und Mephisto eröffnet die Möglichkeit, der Realität der absolutistischen Gesellschaft zu entrinnen. Der plutonische Faust bleibt in seiner Größe isoliert, nicht, weil er kaisertreu ist, sondern, weil der Herrscher und seine Welt zu klein sind. Zur Debatte steht nicht mehr die Treue des Hiob-Fausts zu Gott, sondern die Frage nach dem Sinn der göttlichen Vernunft.

Hegel erklärte, dass in der mythisch-religiösen Vorstellung der Ursprung des Bösen nicht begriffen werde, weil man die Dialektik nicht verstehe. Das Gute aber habe, ebenso wie das Böse, seinen Ursprung im „Willen“. Der Wille sei „in seinem Begriffe sowohl gut als böse“. Mephisto bewegt sich in diesem Kosmos als „Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, während es bei Faust am Ende umgekehrt ist. Dieses dialektische Bild hat zuletzt der tschechische Wirtschaftswissenschaftler Tomás Sedlácek in seinem Buch über „Die Ökonomie von Gut und Böse“ anschaulich aktualisiert. Er klärt uns darüber auf, dass die gegenwärtige Finanzkrise vor allem eine Kulturkrise sei und ökonomische (Fehl-)Entwicklungen mehr mit Moral als mit Mathematik zu tun hätten.

Seine ökonomische Morallehre, nach der „Wohlstand der Nationen“ vom Niveau der „ethischen Gefühle“ abhängig sei, steht in einer jahrtausendalten philosophischen und religiösen Tradition, die vom Gilgamesch-Epos über Aristophanes und Thomas von Aquin bis Adam Smith und Goethes „Faust“ reicht. Auch Mephisto erhält eine nützliche Zuweisung. Denn manchmal sei es besser, so Sedlácek, „den Teufel vor den Pflug zu spannen, als gegen ihn zu kämpfen“.

Bei Goethe ist Mephisto anfangs der traditionelle Verführer und Abgesandte der Hölle, der später Faustens „Geselle“ und Partner wird. Er erscheint nicht nur als Prinzip, sondern als eine dichterisch gestaltete Figur, die oft lebendiger ist als Faust und wohl auch die vom Autor als Wahrheiten empfundenen Auffassungen deutlicher ausspricht. Im Gegensatz zur klassischen Tragödie, in der die Herausforderung der Götter mit Strafe geahndet wird, erzwingt sich Faust den Zugang zum Paradies durch eine Fehlleistung. Weil Goethe den Teufel vermenschlicht und zum Kumpanen erklärt, wird Faust von der Schuld für seine Verbrechen entlastet. Diese Entlastung, so scheint es, erleichtert den Deutschen die Identifikation mit Goethe und seinem Helden.

Der Germanist Rüdiger Scholz, der sich auf zweitausend Seiten durch „Die Geschichte der Faust-Forschung“ gekämpft hat, kommt zu dem Schluss, „dass der Fragehorizont enger als bei anderen Werken verläuft, eher dem des Mondes als dem der Erde gleicht, obwohl so oft Himmel und Ewigkeit angepeilt werden“. In der Regel verharre die wissenschaftliche Erörterung des Dramas und seines Autors, das heißt seiner Ideen, Figuren und Bilder, diesseits der (von Schelling und Hegel errichteten) metaphysischen Schranken.

Die geläufige, gefälligste Interpretation ist die Orientierung an der Zerrissenheit. Das schmerzliche Selbstbekenntnis von Goethes Faust als Zweiseelennatur ist immer wieder auch als Schlüssel für das ominöse deutsche Wesen mystifiziert worden: die Deutschen als ewig gespaltene Nation zwischen Innerlichkeit und Imperialismus, romantischer Dichtung und übersteigertem Nationalismus, zwischen Hölderlin und Hitler, Himmel und Hölle.

Als der französische Philosoph André Glucksmann in den 1970er Jahren darauf hinwies, dass die Ideen der deutschen „Meisterdenker“ des 18. und 19. Jahrhunderts den totalitären Willen zur Macht legitimiert hätten, der für die „Endlösungen“ des 20. Jahrhunderts „unabdingbar“ gewesen sei, wurde das hierzulande als unwissenschaftliche Provokation gewertet. Glucksmann hatte versucht, jenen historischen Prozess zu analysieren, durch den sich deutsche Texte an die Stelle von territorialer Wirklichkeit schoben, um sie zu verdrängen oder je nach Bedarf umzudeuten. In makabrer Modernität sei Deutschland „kein Territorium, keine Bevölkerung, sondern ein Text und ein Verhältnis zu Texten“. Ein solches einseitiges Verhältnis drohe auch Europa mit der „Auflösung des Territoriums“.

In diesem Sinn ist Goethes „Faust“, vollendet 1831, ein Jahr vor dem Tod des Dichters, immer noch ein Text von makabrer Modernität.

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