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Das Leben hat nicht süß geschmeckt. Klaus Mann mit seiner Schwester Erika Mann, 1930 fotografiert von Lotte Jacobi. Der Schriftsteller beging 1949 im Alter von 43 Jahren Suizid.

© Ullstein

Dichter und Maler, die Suizid begingen: Am toten Punkt, am Todespunkt

Von Klaus Mann bis Wolfgang Herrndorf - warum nehmen Künstler sich das Leben? Birgit Lahann über das letzte Geheimnis von Dichtern und Malern, die freiwillig gestorben sind.

Wenn ein Mensch sich das Leben nimmt, bleiben die Angehörigen meist mit der bitteren Frage zurück: Warum? Und vor dem Warum hat sich für viele ein schrecklicher Anblick in Herz und Hirn eingebrannt: Der Mensch am Strick, die leeren Tablettenschachteln am Bett, das Loch im Kopf, der zerschmetterte Körper.

Und der sieht nicht mehr so wunderschön aus, wie Frida Kahlo ihn im Bild „Der Freitod der Dorothy Hale“ gemalt hat. Dorothy Hale lud am 20. Oktober 1938 ihre Freunde in New York zu einer Farewell Party ein, weil sie eine lange Reise machen würde. Für diesen Abend hatte sie ihr Femme-fatale-Gewand aus schwarzem Samt angezogen. Alle waren vergnügt, und niemand hatte der Gastgeberin ansehen können, dass sie kurz vor dem Sprung in den Tod war. Die Gäste hatten nach Mitternacht ahnungslos Glück und Erfolg für die Reise gewünscht, und nun war sie alleine und schrieb Abschiedsbriefe.

Das ist mehr, als die meisten Selbstmörder hinterlassen. Zehntausend Menschen bringen sich Jahr für Jahr in der Bundesrepublik um, und die Statistiker sprechen von hohen Dunkelziffern. Aber nur dreißig Prozent von ihnen schreiben einen Abschiedsbrief. Wie soll man auch die Gründe für einen so endgültigen und intimen Vorgang beschreiben?

Und was hat Dorothy Hale bis zum Sprung in die Tiefe noch getan? Ordnung gemacht? Viele Selbstmörder räumen ihre Wohnung ja vor der Tat sehr sorgfältig auf. Dieser Zwang, geordnet ins Jenseits gehen zu wollen, mutet beinahe wie eine religiöse Handlung an. Das war auch dem Kriminalautor George Simenon aufgefallen, als seine Tochter Marie-Jo sich mit 25 Jahren erschossen hatte. Alles sei in tadelloser Ordnung gewesen, als hättest du, bevor du fort gingst, eine gewissenhafte Reinigung vorgenommen. Und so etwas musste Simenon natürlich auffallen, es wäre ja auch seinem Kommissar Maigret aufgefallen.

Am frühen Morgen des 21. Oktober 1938 ist die 33-jährige Dorothy Hale dann aus dem Fenster ihres Appartements im 16. Stock in den Tod gesprungen. Bei Frida Kahlo liegt sie wunderschön und mit offenen Augen unten am Bildrand im schwarzen Samtkleid mit dem gelben Rosentuff.

Die Anlässe sind seit Urzeiten dieselben

Der Freitod Prominenter ist Schlagzeilen wert. Aber sonst ist der Suizid noch immer ein Tabu. Dabei ist er für den Schriftsteller Jean Améry der einzig natürliche Tod. Der Hang zum Freitod sei keine Krankheit, von der man geheilt werden müsse wie von den Masern. Für alle unbeteiligten Menschen ist ein Suizid das Spektakuläre, das Mutige und Geheimnisvolle, auch wenn die Motive und akuten Anlässe seit Urzeiten dieselben sind: Scheitern, Schande, Liebeskummer, Eifersucht, Depression, Demütigung oder Krankheit.

Wolfgang Herrndorf, Autor des wunderbaren Romans „Tschick“, ist wohl der erste Schriftsteller, der über seinen unheilbaren Tumor im Kopf und seinen beschlossenen Suizid öffentlich und bis zum Ende in seinem Blog „Arbeit und Struktur“ geschrieben hat. Über Tränen und Träume, Chemotherapien und das Verlöschen seiner Energie, über Todesangst und gewünschte Lebenszeit, und immer mit der Frage im Kopf: Wird der Absprung rechtzeitig gelingen? Ich schlafe mit der Waffe in der Faust, ein sicherer Halt, als habe jemand einen Griff an die Realität geschraubt. Alle Koordination kommt aus dem Kopf. Als er merkt, dass er sich nicht mehr auf sie verlassen kann, ist es soweit. Liegen bis in die Nacht am Ufer unter Sternen. Wenige Tage später, am 26. August 2013, erschießt er sich kurz vor Mitternacht in Berlin am Ufer des Hohenzollernkanals.

Ein Freitod kann aber auch impulsiv und eruptiv sein. Am 12. September 2013 springt der Schriftsteller Erich Loest, der mit dem Roman „Nikolaikirche“ berühmt geworden war, mit 87 Jahren aus dem zweiten Stock des Universitätsklinikums Leipzig. Als man der herbeigerufenen Lebensgefährtin sagt, dass ihr Mann sich kurz vor 18 Uhr aus dem Fenster gestürzt habe, ist Linde Rotta fassungslos. Um 17 Uhr hat sie ihm doch noch eine Scheibe Brot in kleine Stücke geschnitten. Aufstehen wollte er nicht, zu schwach. Und nun soll er aus dem Fenster gesprungen sein? Ihr Mann, schreibt Linde Rotta im Nachtrag seines posthum erschienenen Tagebuchs „Gelindes Grausen“, litt an hysterischer Höhenangst. Doch dann sieht sie seine letzte Erzählung auf dem Nachttisch. Sie ist sicher, dass sie dort vorhin noch nicht gelegen hat. Nun ahnt sie, schlägt das Buch auf und liest die Abschiedszeilen für sie mit Dank für wunderbare Jahre.

Heinrich von Kleist, Georg Trakl, Paul Celan, Jack London - alles Selbstmörder

Viele Schriftsteller haben sich mit dem Thema Suizid beschäftigt. So schreibt Max Frisch im März 1973 in sein Berliner Journal: Er denke nicht mehr an Selbstmord, was nicht heiße, dass er nicht im Affekt möglich ist. Und viele Schriftsteller haben sich umgebracht. Heinrich von Kleist, Georg Trakl, Cesare Pavese, Paul Celan, Walter Hasenclever, Jack London, Wladimir Majakowski oder Egon Friedell, der in Panik vor SA-Männern an seiner Wohnungstür aus dem dritten Stock sprang, zuvor aber die Fußgänger noch mit einem Treten Sie zur Seite! warnte. Stefan Zweig hatte sich vor den Nazis retten können, war aber heimatlos in Südamerika. Kurz vor dem gemeinsamen Suizid mit seiner Frau schriebt er ein Declaração: Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.

Auch der junge Hermann Hesse, der kleine Welthasser, war kurz davor, sich umzubringen. Er hatte sich einen Revolver gekauft und schrieb an seine Mutter, dass er sich gerade entschieden habe, noch nicht zu schießen. Später wird Hesse seinen Schülerroman „Unterm Rad“ schreiben. Sein trauriger Held Hans Griebenrath sucht sich im Wald einen Baum aus, prüft einen Ast, ob der auch hält, doch er geht am Ende ins Wasser und treibt kühl und still und langsam im dunklen Flusse talabwärts.

Wie Ophelia in Shakespeares „Hamlet“. Und da sagt dann einer der beiden Totengräber, wenn ein Mensch ins Wasser geht, ist er ein Selbstmörder. Aber wenn das Wasser zu ihm kommt, und ihn ertränkt, so ertränkt er sich nicht selbst. Ophelia ist also, wie so viele Selbstmörder, in den Tod hineingezogen worden. Ins Wasser ging auch Paul Celan. Er stieg unbemerkt in die Seine und ertrank. Das tat Virginia Woolf, als sie fürchtete, wahnsinnig zu werden.

Das tat auch die Mutter von René Magritte. Seine frühen Bilder werden durch ihren Freitod erst interessant. Régina Magritte fühlte sich vom Tod angezogen. Eines Nachts war sie verschwunden. Doch erst 17 Tage später wurde ihre Leiche im Wasser gefunden. René ist damals zwölf Jahre alt. Und natürlich hat er gehört, wie das Nachthemd sich um den Kopf der Mutter geschlungen hatte. So gibt es denn seit 1925 Bilder des großen Surrealisten, die an das Drama erinnern: Da liegen Frauen unter Fischen im Wasser, andere sind verschleiert, und es gibt Liebende, die sich durch Tücher küssen.

Suizide sind oft wie Dramen auf der Bühne. Sie erinnern an Lady Macbeth, Othello, Strindbergs „Fräulein Julie“ oder Willy Loman im „Tod eines Handlungsreisenden“. Wenn Sylvia Plath in „Lady Lazarus“ schreibt: Sterben ist eine Kunst, wie alles. / Ich kann es besonders schön, dann klingt es, als ob die Lyrikerin vor einem Publikum in der Rolle der Tragödin steht, die sich am Ende des Dramas umbringen, all ihr Können ausbreiten wird.

"Die Grenze ist erreicht. Kein Schritt weiter! Wo ist der Gashahn?"

Im Roman „Die Demütigung“ von Philip Roth war Simon Axler einmal ein Bühnen-Star. Als er sechzig ist, scheitert er mit Macbeth und Prospero, will sich umbringen, scheint dann aber den Prozess der Selbstauflösung mit der Eroberung einer lesbischen Frau zu überwinden. Doch die verlässt ihn wieder. Und nun kommt der großartige Schluss: Der Gedemütigte will das einst auf der Bühne Dargestellte jetzt Wirklichkeit werden lassen. Mit der Rolle, die ihn am Broadway berühmt gemacht hat, Tschechows Figur des Gawrilowitsch. Der erschießt sich im Glauben, gescheitert zu sein. Und so beendet auch Traxler nun sein Leben. Genauso wie damals kurz vor dem Schlussapplaus auf der Bühne. Aber jetzt mit einer echten Kugel im Revolver. Neben seinem Leichnam liegt ein Zettel mit neun Worten: Die Sache ist die: Konstantin Gawrilowitsch hat sich erschossen. Das sind die letzten Worte aus Tschechows „Möwe“.

Es sind diese Geschichten, die seit Jahren so geheimnisvoll und verführerisch auf mich gewirkt haben. Und die schreibenden und malenden Selbstmörder konnten den Prozess vom erfolgreichen Leben in die Tragik ihres Scheiterns beschreiben. Wir können ahnen, was in ihnen vor sich gegangen ist. Bei vielen wetterleuchtet das Ende schon lange vor der Tat durch ihr Leben. Selbstmörder ist man lange bevor man sich umbringt, schreibt Jean Améry. Und dann geht es ganz schnell. Warum begeht man Selbstmord? fragt Klaus Mann, als sich wieder einer seiner Freunde getötet hat. Plötzlich ist man am toten Punkt, am Todespunkt. Die Grenze ist erreicht. Kein Schritt weiter! Wo ist der Gashahn? Her mit dem Phanodorm! Schmeckt es bitter? Was tut's? Das Leben hat nicht eben süß geschmeckt.

Und er weiß, wovon er redet. Er weiß, wie eingeengt der Blick eines Selbstmörders im Augenblick der Tat ist. Er hat doch Suizidversuche hinter sich und hat dabei nicht an seinen Übervater Thomas Mann gedacht, der nach Klaus’ Freitod bitter fragte, warum er es der Familie angetan hat. Nein, er hat es sich angetan!

Künstler haben sich mit den Befindlichkeiten auseinandergesetzt, die zu ihrer Selbsttötung führten, in Erzählungen, Romanen, Briefen, Bildern, Tagebüchern und Gedichten. Dichter verfügen über die Feinfühligkeit für die Wahrnehmung verborgener Seelenregungen, schreibt Sigmund Freud. Und so werden schließlich Antworten auf die Frage nach dem Warum sichtbar, auch, wenn wir ihre letzten Gedanken nicht kennen und der Augenblick der Wahrheit ihr Geheimnis bleibt.

Der Text ist ein gekürzter Vorabdruck aus Birgit Lahanns Buch „Am Todespunkt – 18 berühmte Dichter und Maler, die sich das Leben nahmen“, das dieser Tage im Dietz Verlag erscheint, 247 Seiten, 22 Euro.

Birgit Lahann

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