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Kultur: Dichtertreffen in Santiago: Blick nach vorn im Zorn

Chile steckt derzeit in einem doppelten Zangengriff: Nachdem die russische Raumstation Mir fahrplanmäßig bei den Fidschi-Inseln niederging, droht von oben das Ozonloch, von unten ein neues Erdbeben, und der Streit um die juristische Aufarbeitung der Diktatur polarisiert die Bevölkerung. Der politische Spielraum des sozialdemokratischen Präsidenten Lagos ist denkbar eng.

Chile steckt derzeit in einem doppelten Zangengriff: Nachdem die russische Raumstation Mir fahrplanmäßig bei den Fidschi-Inseln niederging, droht von oben das Ozonloch, von unten ein neues Erdbeben, und der Streit um die juristische Aufarbeitung der Diktatur polarisiert die Bevölkerung. Der politische Spielraum des sozialdemokratischen Präsidenten Lagos ist denkbar eng. Auf der einen Seite ein sprunghafter Anstieg der Arbeitslosigkeit, die während des Wirtschaftsbooms unter Pinochet gegen Null tendiert hatte - auf der anderen Seite der Bürgermeister von Santiago und konservative Oppositionsführer Lavín, der dem Staatschef die Schau stiehlt, indem er Verbrechensopfern medienwirksam Hilfe verspricht und die Straßen der Hauptstadt von Taschendieben und Transvestiten säubern lässt. Im Hintergrund die um ihre Pfründe fürchtende Oligarchie und die nervös gewordene Armee, die zusammen mit ihrem Idol Pinochet an Einfluss verliert.

Mit einer spektakulären Kulturoffensive, wie sie Chile seit dem Sturz Salvador Allendes nicht mehr erlebte, ergriff Lagos nun die Flucht nach vorn: Die namhaftesten Dichter Lateinamerikas, einschließlich Brasiliens, gaben sich in Santiago ein Stelldichein; aus den USA waren Adrienne Rich und die schwarze Dichterin Rita Dove gekommen, aus Europa Jewgenij Jewtuschenko und Hans Magnus Enzensberger. Eine Woche lang stand die Hauptstadt im Zeichen der Poesie: Hubschrauber warfen mit Lyrik bedruckte Flugblätter ab, in der mit Autorenporträts geschmückten U-Bahn wurden Verse deklamiert. Dichter traten an die Fenster des Moneda-Palasts, Schauplatz des blutigen Putschs vom Herbst 1973, und lasen zehntausend Zuhörern auf der Plaza de la Constitución ihre Gedichte vor.

Seit den Tagen Pablo Nerudas ist die Poesie in Chile eine öffentliche Angelegenheit, die wie sonst nur der Fußball über ideologische Grenzen hinweg die Menschen eint. Das zum Museum umgestaltete Wohnhaus des Dichters auf der Isla Negra ist mit Fanpost und Liebesbriefen gespickt, und alle Chilenen sind stolz auf ihre Literaturnobelpreisträgerin Gabriela Mistral. Dass Pinochet dem aus Buenos Aires angereisten Borges einen Orden verlieh, durch dessen Annahme dieser sich die Chancen für den Nobelpreis verdarb, steht auf einem anderen Blatt. Nerudas Rolle wird heute von dem Nobelpreiskandidaten Nicanor Parra gespielt, ein Gegenpol zu dem kommunistischen Barden, dessen heimatverbundene Poesie manchmal nach Blut und Boden klingt. Dagegen ist der Mathematikprofessor Parra ganz und gar unsentimental und entzückt seine Landsleute, indem er ihre nationalen Schwächen mit Hohn und Spott übergießt.

Der peruanische Poet Alberto Cisneros las ein Gedicht über einen an der Küste gestrandeten Wal, dem die Bewohner der Elendsviertel mit Messern und Gabeln zu Leibe rücken, bevor sein Fleisch in der Hitze in Fäulnis übergeht - eine passende Metapher für das, was beim Dichterfest in Santiago geschah. Poesie ist hier kein Luxusartikel, sondern ein Lebensmittel wie Brot und Wein. "Der Massenandrang zu den Lesungen bezeugt nicht nur den Hunger nach Kultur", meinte der Romancier Jorge Edwards: "Er ist auch ein Indiz für Unterentwicklung und eine Einladung zur Demagogie." Damit war der Nicaraguaner Ernesto Cardenal gemeint, der mit den Worten: "Ich bin Priester, Poet und Revolutionär", das Publikum zu Beifallsstürmen hinriss, als stünde die Wiedergeburt von Salvador Allendes Volksfront auf dem Programm. In Cardenals Gedichten war von heroischen Guerilleros die Rede, deren Gräber wie Leuchtfeuer strahlen, an denen sich Kosmonauten im Weltall orientieren - revolutionärer Kitsch aus zweiter Hand. Hans Magnus Enzensberger artistische Pirouetten wirkten dagegen wohltuend sachlich und unterkühlt.

"Die Aufarbeitung der Diktatur muss Hand in Hand gehen mit einer Selbstkritik der Linken, deren Fehler und Versäumnisse den Putsch überhaupt erst ermöglichten", sagt Jorge Edwards, Ex-Botschafter Allendes in Kuba und selbst gebranntes Kind, seit Fidel Castro ihn wegen seines Eintretens für den verfolgten Dichter Padilla ausweisen ließ. Juan Andrés Racz, Ex-Außenminister der linksradikalen MIR, pflichtet Edwards bei. Zwar freut er sich, dass Pinochets Folterchef Manuel Contreras hinter Gittern ist, aber die konsequente Bestrafung aller Verantwortlichen ist politisch nicht durchsetzbar. Wenn die Täter keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden dürfen, ist schon viel erreicht.

"Die chilenische Bourgeoisie ist heuchlerisch und korrupt", sagt der Romancier Poli Délano, der aus Protest gegen das Establishment, dem er selbst entstammt, Ende der 50er Jahre nach Peking übersiedelte und 1984 aus mexikanischem Exil nach Santiago zurückkehrte. "Ehescheidung und Abtreibung sind in Chile verboten, die Antibaby-Pille ebenfalls. Der Demokratisierungsprozess stockt, und vermutlich wird Pinochet nie abgeurteilt." Sein Freund Jaime Valdivieso, Literaturkritiker und Essayist, stimmt ihm zu. "Jenseits der Polarisierung in rechts und links gibt es eine Spaltung, die viel tiefer reicht. Auf der einen Seite die hellhäutige Oligarchie, die zum Einkaufen nach Miami fliegt und ihre Kinder in USA studieren lässt; auf der anderen die indianischstämmige Bevölkerungsmehrheit, die, wie die armen Einwanderer, in Elendsquartieren lebt. Chile ist keine europäisch geprägte Kulturnation, sondern eine Art Apartheidsregime."

Die unversöhnliche Härte, mit der soziale Konflikte ausgetragen werden in diesem auf den ersten Blick freundlichen und weltoffenen Land, wird deutlich, wenn man mit den Reaktionären spricht. "Ich bin überzeugter Pinochet-Anhänger", sagt German Claro Lira, Gentleman-Farmer und Tourismus-Manager. "General Pinochet ist mein persönlicher Freund. Er ist ein brillanter Intellektueller, und er hat Chile aus dem Chaos gerettet, ohne einen einzigen Peso in die eigene Tasche zu stecken. - Zwischen Sozialisten und Kommunisten sehe ich keinen Unterschied", fügt er hinzu und bläst den Rauch seiner Dunhill-Pfeife durch die Nasenlöcher. "Kaum sind sie an der Macht, gibt es Streiks und Arbeitslosigkeit. Wenn es so weitergeht, muss die Armee bald wieder Ordnung schaffen. Wussten Sie, dass nach der Ausrufung des Notstands durch General Pinochet 814 chilenische Soldaten von Heckenschützen getötet worden sind - nicht in offenem Kampf, sondern feige, aus dem Hinterhalt?"

Der Ultrakonservative Claro wirkt gemäßigt im Vergleich zu Miguel Serrano, dem geistigen Mentor der chilenischen Nazi-Partei. Der heute 82-jährige war chilenischer Botschafter in Titos Jugoslawien und in Indien, wo er eine Affäre mit Indira Gandhi gehabt haben soll. In den 50er Jahren pilgerte er nach Montagnola zu Hermann Hesse, mit dem er Briefe wechselte, und schloss Freundschaft mit dem Psychoanalytiker C. G. Jung, der ein Vorwort zu einem seiner Essays schrieb. Serrano hat Dutzende von Büchern veröffentlicht, die in viele Sprachen übersetzt worden sind. Er wirkt gebildet, feinsinnig, kultiviert - nur die Hitlerbilder und Hakenkreuze an den Wänden seiner großbürgerlichen Wohnung passen nicht recht dazu. Es gibt Apfelstrudel und Tee - eine Hommage an den Führer, der mit seinen Sekretärinnen gern Kuchen aß.

"Leider habe ich Adolf Hitler nicht persönlich gekannt", sagt Miguel Serrano. "Aber ich bin sicher, dass er noch lebt - nach Kriegsende setzte er sich mit einer fliegenden Untertasse in der Antarktis ab. Das war die Wunderwaffe der Deutschen. Hitler war kein Mensch, sondern ein Messias, und zusammen mit seinen Getreuen wartet er im ewigen Eis auf den richtigen Moment zum Losschlagen." Zu Neonazis hat Miguel Serrano angeblich keinen Kontakt: Das seien alberne Rabauken - der Lauf der Welt sei vorherbestimmt, und niemand könne dem Rad der Geschichte in die Speichen fallen. Aber die Deutschen seien ein auserwähltes Volk - genau wie die Tibeter und die Ureinwohnern Chiles, die von Wikingern abstammten.

Es ist schwierig, einen klaren Kopf zu behalten angesichts des gütigen Greises mit schlohweißem Haar, der mit sanfter Stimme seine Wahnideen darlegt und per Internet verbreitet, als handle es sich um unbezweifelbare Wahrheiten. Das Erschreckendste daran ist, dass der ideologische Wahn sich nur graduell von rationalem Denken unterscheidet - wer sich auf einen ernsthaften Disput einlässt, hat schon verloren.

"Und was ist mit Auschwitz?" Miguel Serrano lächelt nachsichtig. "Heuzutage weiß doch jedes Kind, dass es in Auschwitz keine Gaskammern gab." Und er erzählt voller Stolz, wie sein früherer Schulkamerad Salvador Allende dem Nazijäger Simon Wiesenthal untersagt habe, in Chile nach NS-Tätern zu fahnden - nachzulesen in Victor Farías kürzlich erschienenem Buch über Nazi-Kriegsverbrecher in Südamerika. Den Putsch von Pinochet dagegen lehnt Miguel Serrano ab, weil dessen Regime von Israel mit Waffen und Militärberatern unterstützt worden sei. "Haben Sie den Namen Tompkins schon einmal gehört? Um Südchiles Wälder vor Abholzung zu schützen, kauft dieser angebliche Philanthrop riesige Ländereien auf. Dahinter steckt die Rockefeller-Stiftung, hinter der das Weltjudentum steht. Aber ich habe nichts gegen Juden: Ninon Hesse, Hermann Hesses jüdische Frau, war meine beste Freundin."

Es ist Zeit zu gehen: Wer sich dieser Rhetorik aussetzt, wird von ihr infiziert.

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