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Der dichtende Quartalssäufer und sein Lebensglück. Fritz Reuter mit seiner Ehefrau Luise, um 1870. Foto: picture-alliance/akg-images

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Dickens auf Niederdeutsch: Wat sall einer dorbi dauhn?

Zum 200. Geburtstag des zu Unrecht vergessenen Erzählers Fritz Reuter.

„Ja, ja. So was’t nich ümmer.“ Ja, nicht immer war Fritz Reuter so unbekannt wie heute. „Ut mine Stromtid“, der 1862 und 1864 erschienene Roman, der mit jenem Satz beginnt, war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eines der bürgerlichen Lieblingsbücher. Helmut Gollwitzer, der aufrechte Theologe, notierte in „Und führen wohin du nicht willst“, seinen 1951 erschienenen Erinnerungen an die sibirische Kriegsgefangenschaft, wie sehr ihn der Roman auf der Fahrt ins Ungewisse beeindruckte. „Mit immer knurrendem Magen“, alles um sich herum vergessend, las er dessen „unsterbliche“ Geschichte und fand „in der Redensart der lütten Fru Pastor, ‚Da bin ich die Nächste dazu‘ den schönsten Kommentar zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter“.

Reuters Name ist noch präsent, zumindest in Norddeutschland. Überall, auch in Berlin, sind Straßen und Schulen nach ihm benannt; es gibt sogar eine Band mit dem Namen Reuters Fritzen. Unweit der Berliner Hufeisensiedlung haben auch seine Figuren ihre Straßen gefunden: Hanne Nüte, Dörchläuchting, Jochen Nüßler, Mining und Lining und Onkel Bräsig. Welchem anderen Autor ist so etwas gelungen?

Am heutigen Sonntag jährt sich sein Geburtstag zum 200. Mal, am 11. November wird eine Briefmarke dazu ausgegeben. Zwei gab es schon zuvor, 1954 in der DDR und 1985 in der Bundesrepublik. Gedächtnisstützen für den Namen – aber auch fürs Werk? Man mag heute kaum glauben, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überall in Deutschland Niederdeutsch gelernt wurde, um seine Bücher lesen zu können. Und der „niederdeutsche Dickens“ wurde in nicht weniger als 28 Sprachen übersetzt. Große Kollegen von Wilhelm Raabe bis Thomas Mann, Arno Schmidt oder Uwe Johnson haben ihm ihre Reverenz erwiesen. Auf den Bühnen – gerade in Berlin – waren Schwänke und Rührstücke mehr oder weniger frei nach seinen Werken bis in die dreißiger Jahre hinein präsent.

In der DDR wurde mithilfe von Reuters Werk für die Kollektivierung der Landwirtschaft geworben. 1954 brachte die Defa „Kein Hüsung“ heraus, trotz des Propagandazwecks ein beeindruckender Film. Den beiden Liebenden Johann und Mariken wird die Hüsung verweigert, sie können daher weder in die Stadt ziehen noch heiraten, so dass das Kind, das Mariken erwartet, ein Bankert sein wird, bis Johann den hartherzigen Junker mit der Forke ersticht. Regisseur Ehm Welk gibt der Geschichte eine andere Wendung als bei Reuter: Johann wandert nicht nach Amerika aus, sondern wird hierzulande zum Berufsrevolutionär. Mariken erfriert melodramatisch am Heiligen Abend im Schnee, ihr Kind wird von anderen aufgezogen. Bis der Vater nach zehn Jahren zurückkommt, den Sohn zu holen. Der kriegt eine Thälmann-Mütze aufgesetzt – „Frei soll er sein“ – und beide wandern dem Horizont entgegen.

1810 in Stavenhagen geboren, wo ihm eins der schönsten deutschen Literaturmuseen gewidmet ist, konnte Fritz Reuter es seinem Bürgermeister-Vater nie recht machen. Schon früh war er ein genialischer Bummelant und Säufer. Vielleicht war es bloß Renommisterei, die den Jenaer Studenten burschenschaftliche Reden schwingen und das verbotene Schwarzrotgold tragen ließ; jedenfalls hat er bitter dafür gebüßt. 1833 wird er in Berlin verhaftet, zum Tode verurteilt, zu 30 Jahren Festungshaft begnadigt, von denen er immerhin sieben unter elenden Bedingungen absitzen musste, in der Hausvogtei und an weiteren fünf Orten. Vom Vater wird er enterbt, die Landwirtschaftslehre bricht er ab, als Privatlehrer unternimmt er erste schriftstellerische Versuche. 1851 heiratet er die Pastorentochter Luise Kuntze, sein Lebensglück.

Mit den anekdotischen Schnurrpfeifereien „Läuschen un Rimels“ hatte er 1853 einen ersten Erfolg, „Kein Hüsung“ macht ihn 1857 weit über den Norden hinaus bekannt. Die Verarbeitung seiner Haftzeit, „Ut mine Festungstid“, wird ebenso ein Bestseller wie „Ut mine Stromtid“. Die Reuters sind nun wohlhabend genug, um sich in Eisenach eine Villa zu bauen, die heute ein Literaturmuseum ist. Damals pilgerten Verehrer aus aller Welt dorthin, doch immer öfter wurden sie abgewiesen – weil seine Alkoholsucht Besuche verbat. Als er 1874 starb, nahmen die Kondolenzen monatelang kein Ende, die Beliebtheit seiner Werke steigerte sich noch.

Woher rührt der Erfolg? Es ist, wie plakativ es auch klingen mag, das Humane. Die Humanität dessen, dem nichts Menschliches fremd ist und der sich eben deshalb gleichermaßen darüber empören wie vergrübeln kann, der mitleidet oder spottet, sentimental wie sarkastisch.

Zum Beispiel „Stromtid“, die in hervorragender hochdeutscher Übersetzung von Barbara und Friedrich Minssen und gediegener Aufmachung bei Manuscriptum vorliegt. Darin schildert Reuter die mal rührselige, mal burleske, mal satirische, mal humorige Geschichte vom braven Pächter Hawermann und vom bösen Junker Pomuchelskopp, vom idyllischen Pfarrhaus und dem fatalistischen Jochen Nüßler, zu dessen stärksten Lebensregungen die Frage gehört: „Wat sall einer dorbi dauhn“, vom weisen Juden Moses – und vor allem vom sprichwörtlich gewordenen Unkel Bräsig. Der frühere Landwirtschaftsinspektor ist von überbordender Beredsamkeit, eine anrührend tragikomische Figur, ein Mittler zwischen allen, aber auch zwischen allen Stühlen, vor allem aber mitten zwischen Hoch- und Niederdeutsch. Seine Sprachverdrehungen, hinterhältig oder grobianisch, haben ihn fürs 19. Jahrhundert unsterblich gemacht. „Der Mensch liest auch nicht wegen Verstehen, Korl, der Mensch liest pour paster la tante aus die Bücher.“ Darum las man so gerne von Bräsig. Und wenn Bräsig von Berlin erzählt, dann weiß er: „Berlin is ne’ metropolitanische Stadt, ist ein Weltkörper, ist ein Kunstwerk in ’ner Sandwüste, is ’ne Idee von Großartigkeit mit Gasbeleuchtung“, kurz: „es ist ein Punkt auf Erden“.

Das ist nicht die Kreuzworträtselei der gymnasialen Oberstufe, für die Wilhelm Raabe verehrt wurde, darin steckt die Realschule des ländlichen Lebens.

Erhard Schütz

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