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Die ''68er'': Es war nicht alles links

Der "Spiegel" hat Mitleid mit den Achtundsechzigern und bittet sie zur Familienaufstellung.

Manchmal beginnt Geschichte im Kleinen. Und manchmal im ganz, ganz Kleinen. Befragt nach dem Augenblick ihrer kulturellen Initialzündung als sogenannte Achtundsechziger, erinnern sich im aktuellen „Spiegel“ der Hochschullehrer Christoph Köhler und der Sozialmanager Joachim „Barlo“ Barloschky an ein Sommerfest auf dem Dach der „Lila Eule“ im Bremer Steintorviertel:

Christoph: „Auf dem Dach hatten wir uns alle ausgezogen.“

Barlo: „Ganz genau. Und Olaf, der hat uns an den Schwanz gefasst. Also mir.“

Ganz genau. Und weil das alles so schön und ungekannt und revolutionär war damals, weil die Achtundsechziger in letzter Zeit so viel Schimpfe einstecken mussten von den reaktionären Kai Diekmanns und Eva Hermans dieser Republik, und weil, wie der „Spiegel“ titelt, „nicht alles schlecht“ war am Aufbruchsprojekt 68 – deshalb wird hier nun auf 14 Seiten die ganz große Vergangenheitsbewältigungs-Show gegeben: 16 Achtundsechziger treten zur retrospektiven Familienaufstellung an – und sparen zum Ergötzen der nachgeborenen Leser nicht mit Geduze, Selbstentblößung und Vulgärmarxismus.

„Du, erkennst du dich in dem wieder, was der Cordt da gerade sagt?“, fragt dann zum Beispiel der Christian. „Ich nicht“, antwortet die Barbara, und „Nur zur Hälfte“ der Matthias – und trotzdem liefert diese Garde durchweg arrivierter Journalisten, Anwälte, Abgeordneter, Pädagogen, Geschäftsleute und Ärzte letztlich recht eindeutige Befunde ab. Erstens: Der Impuls des politischen Aufbegehrens kam stets aus dem Privaten. „Wir waren Egoisten, wir wollten einfach für uns selbst ein besseres Leben“, sagt Spiegel-Redakteur Cordt Schnibben. „Es war langweilig, es war einfach langweilig“, erinnert sich die Kulturveranstalterin Karin Hopfe.

Zweitens: Es war nicht alles schlecht – und wer den Revolutionären von damals die gesellschaftlichen Verwerfungen von heute anlastet, sucht bloß nach einem Sündenbock. Alleinerziehende Eltern, soziale Vereinzelung auf breiter Front – schuld sind „die Auflösung der Familienstrukturen durch die erzwungene Unstetigkeit der Arbeit“ sowie der „Turbokapitalismus mit seiner ständigen Tempoerhöhung und Flexibilisierung aller Arbeitsverhältnisse“, wie Matthias Kleij und Irmela Hannover in bestem Küchenmarxistisch formulieren. „Schuldlos schuldig“ – so die Tagesspiegel-Journalistin Tissy Bruns über das Paradox, dass die Verfechter breiterer gesellschaftlicher Solidarität letztlich zu Vorreitern einer durchindividualisierten Gesellschaft wurden. „Auch die Tatsache, dass freiere Sexualität durch den Kapitalismus vermarktet und zu einem Alltagsding geworden ist, das belästigenden Charakter annehmen kann, das ist doch nicht unsere Schuld“, sagt der Matthias. Und die Krista: „Nee, das ist der Markt.“

Drittens: Ganz im Gegensatz zu Eva Hermans These von der Zerstörung traditioneller Familienwerte durch die Achtundsechziger sehen sie selbst ihr größtes Verdienst gerade im Entwurf erträglicher Formen des familiären Zusammenlebens – in Abgrenzung zur emotionalen Kälte der eigenen Elternhäuser.

Katja: „In diesem ganzen Familienzusammenhang bin ich auch total Altmarxistin.“

Jork: „Die Familie als revolutionäre Zelle des Widerstands. Habe ich doch so verstanden?“

Ganz genau. Für Nachgeborene kommt diese bizarre Familienzusammenführung freilich nicht nur rhetorisch aus weiter Ferne daher. Achtundsechziger, scheint’s, sind Menschen, die ihr Leben lang alberne Kinderspitznamen mit sich herumtragen: der Barlo, die Tissy, der Joschka. Achtundsechziger, das sind zudem Menschen, die in der Anpreisung ihrer heilen Familienverhältnisse den verhassten Eltern gar nicht so unähnlich sind: Bei uns zu Hause ist die Welt in Ordnung. Keine Generation, behauptet zum Beispiel der Matthias, habe je so ein Gefühl von Doppelmoral und Verlogenheit erlebt wie seine eigene – „und schon lange nicht die Generation unserer Kinder“.

Und ganz genau da liegt das Problem. Denn natürlich sind es weder die Scheidungsrate noch die Pornoindustrie, die vielen Jüngeren die Achtundsechziger suspekt machen – sondern ihre Selbstgefälligkeit, ihre Neigung, die Auflehnung gegen das Elternhaus zum Monopol der eigenen Generation zu erklären, das müde Haben-wir-doch-alles-schon-probiert-Lächeln, mit dem sie den Nachgeborenen begegnen. Schnibben & Co. mögen sich angegriffen fühlen, wenn verzweifelte Traditionsretter wie Diekmann und Herman den Weg suchen, der historisch hinter die Achtundsechziger zurückführt. Geschenkt. Lieber sollten sie darüber nachdenken, warum es für die Jüngeren so schwer ist, den Weg an ihnen vorbei zu finden.

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