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Kultur: Die ängstliche Nation

Michael Moores Dokumentarfilm über Gewalt in den USA: „Bowling for Columbine“

Kann ein Film aktueller sein? Die Sniper von Washington waren kaum gefasst, da rastete in Arizona ein Student aus und riss drei seiner Professoren mit in den Tod. Drei Wochen ist das her. Da war „Bowling for Columbine“ gerade in den US-Kinos angelaufen.

Michael Moores Film sucht nach den Ursprüngen dieser Gewalt: Er reist durch das Land und das gewalttätige Unterbewusstsein Amerikas. Einmal vergleicht er die Zahl der Menschen, die alljährlich in verschiedenen Ländern durch Schusswaffen zu Tode kommen: Deutschland 381, Kanada 165, Großbritannien 68, Japan 39, und USA: 11127. Gewalt, heißt es in den USA, sei so amerikanisch wie apple-pie.

Michael Moore muss man sich vorstellen wie eine Mischung aus Noam Chomsky, Ralph Nader und Homer Simpson. In „Roger and Me“ (1989) und „The Big One“ (1997) griff er Corporate America an. Er agitierte gegen Massenentlassungen und Fabrikschließungen. Er war der Kleine Mann, der sich mit dem Big Business anlegte. Mit dickem Bauch, dünnem Vollbart, Baseball-Kappe und Schlabberjeans schlurft er durchs Bild, seinen Interviewpartnern hört er mit Pokerface zu und trägt mit sonorer Stimme seine sarkastischen oder pathetischen Sprüche vor. Gäbe er nicht gekonnt den Mann aus dem Volk, man würde ihm Selbstinszenierung vorwerfen. Doch all das gehört zu seiner Strategie.

In „Bowling for Columbine“ wendet sich Michael Moore einem neuen Thema zu und bleibt seinem Stil doch treu. Zunächst analysiert er die Verwandtschaft zwischen Wahnwitz und Waffengewalt. Er interviewt James Nichols, dessen Bruder Terry beim Attentat in Oklahoma City beteiligt war und der die sprichwörtliche Knarre unter dem Kopfkissen versteckt. Er zeigt einen blinden Jungen, der Mitglied im Schützenverein ist. Er lässt sich bei einem Friseur, in dessen Laden Munition verkauft wird, die Haare schneiden. Er eröffnet ein Bankkonto und bekommt ein Gewehr als Prämie in die Hand gedrückt. Ein Crescendo der Absurdität und Brutalität, das in den Videoaufnahmen vom Massaker an der Columbine High School in Littleton seinen Höhepunkt findet. Alles Metaphern einer wildgewordenen Gesellschaft: rücksichtslose Mörder, sinnlose Tote, falsche Sündenböcke.

Doch wer ist wirklich schuld? Die Rüstungsfirma Lockheed Martin und das US-Militär mit ihrer Präsenz in der Umgebung von Littleton? Die Waffenlobbyisten von der National Rifle Association (NRA), die nur wenige Tage nach den Morden zu einer Veranstaltung einladen? Die gnadenlose Leistungsgesellschaft, wie der „South Park“-Erfinder und ehemalige Columbine-Schüler Matt Stone meint? Oder doch bloß Bowling? Bevor sie zum Massaker schritten, waren die Columbine-Mörder zum Kegeln gegangen.

Im zweiten Teil holt Moore zur eigentlichen, bestechenden These aus. Nicht die blutige Geschichte Amerikas sei schuld, wie oft behauptet wird. Die britische und die deutsche Geschichte hätten mit dem Empire und dem „Dritten Reich“ viel brutalere Kapitel. Für Moore, der sich selbst als NRA-Mitglied zu erkennen gibt, sind auch die über 200 Millionen Handfeuerwaffen im Umlauf nicht das Problem. Kanada dient ihm als utopisches Gegenbild. Dort ist die Anzahl der Waffen pro Kopf beinahe ebenso hoch. Doch die Todesrate ist deutlich geringer. Warum? In Kanada herrscht keine Kultur der Angst.

Moore bezieht sich dabei auf Barry Glassners Buch „The Culture of Fear“ (1999). Der Soziologe, der auch im Film zu Wort kommt, behauptet, dass in den USA bestimmte Gruppen – Journalisten, Politiker und Anwälte – von Ängsten in der Bevölkerung profitieren und sie daher schüren. Killerbienen aus Afrika, die über Südamerika in die USA vordringen. Tödliche Rasierklingen, die in Halloween-Äpfeln versteckt sind. Gefährliche Schlankheitspillen! Gefährliche Rolltreppen! Gefährliche Afro-Amerikaner! Die Welt in den Medien: ein Horrorkabinett. Die Amerikaner wähnen sich umstellt von Gefahren. Und der 11. September hat ihre Ängste nicht gerade vermindert. Erst dank der amerikanischen Paranoia, so Moores These, entwickeln die Waffen ihre tödliche Kraft. Hinzu komme – und dabei bewegt er sich auf allzu bekanntem Terrain – die Eiseskälte des Kapitalismus und des US-Sozialsystems.

Im Showdown seiner Filme entsichert der Regie-Cowboy Moore gerne die Kamera und zerrt seine Gegner zum Duell. Eins gegen Eins. Mann gegen Mann. In „Roger and Me“ war es Roger Smith, der damalige Präsident von General Motors. In „The Big One“ griff er sich Nike-Chef Phil Knight. In „Bowling for Columbine“ fordert er nun den Schauspieler, Waffennarren und NRA-Präsidenten Charlten Heston zum Schlagabtausch vor die Kamera. Selten war die Doppeldeutigkeit des Wortes shot – Einstellung und Schuss – treffender. Heston knetet nervös seine knorrigen Hände. Am Ende humpelt er wie ein verwundeter Schütze davon. Doch hier zeigt sich auch die Schwäche von Moores Film: Er zieht seine These nicht konsequent genug durch. Im Duell mit Heston stellt er der falschen Person die falschen Fragen.

Überhaupt schlägt Moore manchmal, wie ein angeschlagener Boxer halbblind vor Wut, am Ziel vorbei. Aber „Bowling for Columbine“ – nach 46 Jahren der erste Dokumentarfilm im Wettbewerb von Cannes und dort mit einem Spezialpreis ausgezeichnet – ist auch weniger ein geradeaus argumentierender Essay als eine wuchtige Materialkompilation: zum Brüllen komisch und zum Heulen schockierend.

Ab morgen im Kino. Heute, 19 Uhr, Vorpremiere in der Berliner Akademie der Künste, anschließend Diskussion unter anderem mit Jane Kramer („New York Times“) und Harald Fricke („taz“).

Julian Hanich

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