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Kultur: Die Angst der Deutschen vor sich selbst

Verfolgt man die mächtig in Gang gekommene Diskussion über die "Berliner Republik", so kann einem eine Episode in Thomas Manns "Buddenbrooks" in den Sinn kommen.Sie ist dem Einbruch der revolutionären Wirren von 1848 in das solide Lübeck geschuldet.

Verfolgt man die mächtig in Gang gekommene Diskussion über die "Berliner Republik", so kann einem eine Episode in Thomas Manns "Buddenbrooks" in den Sinn kommen.Sie ist dem Einbruch der revolutionären Wirren von 1848 in das solide Lübeck geschuldet.Was denn der Aufruhr solle, fragt da Konsul Buddenbrook die Arbeiter, die sich vor dem Haus der Bürgerschaft versammelt haben, und der Mutigste antwortet: man wolle eine Republik."Du Döskopp", antwortet der Konsul, der Volksnähe wegen ins Plattdeutsche verfallend, "Ji heww ja schon een!" Denn die Freie und Hansestadt war nach Verfassung und Selbstverständnis in der Tat eine Republik."Jo, Herr Kunsol", erklärt darauf trotzig der Rebell und setzt sich allgemeinem Gelächter aus, "denn wull wie noch een."

Ja, wir haben eine Republik, und niemand will noch eine.Keiner hat vor, den Umzug von Bundestag und Bundesregierung von Bonn nach Berlin zu ihrer grundsätzlichen Veränderung zu nutzen; es sind auch keine Kräfte zu sehen, die darauf gerichtet sind, daß in Berlin die berüchtigte "andere Republik" ans Licht treten wird, die das Totschlagwort der siebziger und achtziger Jahre war.Im Gegenteil, alle überbieten sich in Treuebekundungen zu dem in bald fünfzig Jahren Bonner Existenz gewachsenen Staatswesen.Weshalb also ist gleichwohl die Rede, visionär angehaucht, von einer "Berliner Republik", die mit dem Umzug beginnen soll? Woher andererseits das merkwürdig insistente Widerstreben gegen diese Formel? Nun, da der nahegerückte Umzug zum Ereignis werden läßt, was bisher nur Beschluß und Ziel war, wird der Begriff perhorresziert, als beschwöre er das alte Unheil: fast so etwas wie ein archaischer Abwehrzauber gegen eine Veränderung, die doch eigentlich eine Chance darstellen soll.

Es ist ja auch gar nicht so sehr der Umzug nach Berlin und dieses Berlin selbst - dessen Wirkung als künftiger Hauptschauplatz der deutschen Politik vermutlich überschätzt wird -, die die Probleme machen, die unter dem Schlag- und Reizwort von der Berliner Republik hin- und hergewendet werden.Es sind die Probleme selbst, die den Begriff streitig aufladen.Es ist der Zustand der Bundesrepublik - im Jahr Acht nach einer Vereinigung, die noch längst nicht zur Einheit geführt hat, in einem Europa, das seine Rolle in der von der Blockpolarität befreiten, aber dafür unübersichtlich gewordenen Welt noch nicht gefunden hat, unter dem Druck der Woge eines sprunghaften wirtschaftlichen Wandels, der aus Labors und Börsensälen, aus Asien und Amerika auf uns zurollt.Es ist, alles in allem genommen, die unbeantwortete Frage der Identität des neuen, größer gewordenen Deutschlands.

Gewiß trifft es zu, daß die Bundesrepublik - wie die Konsuln der Republik immer wieder erklären - nicht Bonner Republik sein wollte und sollte, die Rede von einer Berliner Republik also zumindest überflüssig, wo nicht ein verfassungspolitisches Ärgernis sei.Danach wäre der Umzug nach Berlin nichts anderes als der Wechsel des Regierungssitzes jener deutschen Republik, die, umständehalber, bald ein halbes Jahrhundert von Bonn aus dirigiert wurde, ja, die endliche Einholung ihres ursprünglichen Zieles, eines Deutschlands für alle Deutschen mit der Hauptstadt Berlin.

Aber was staatsrechtlich Sinn hat, macht es historisch und mental nur dann, wenn man patriotische Scheuklappen anlegt.Die alte Bundesrepublik hat in ihrer erstaunlichen, rühmenswerten Geschichte ihren gesamtdeutschen Beruf weitgehend aus den Augen verloren.Sie wurde immer mehr, was sie nicht sein sollte - eine Republik, deren Horizont ausgefüllt war mit den Ereignissen zwischen München und Kiel, Aachen und Helmstedt, dazu Berlin als entrückter Ausleger im grauen, real-sozialistischen Umfeld.Sie wurde faktisch zu einer Bonner Republik - wie sehr, wissen wir spätestens seit der Wiedervereinigung.

Die Bundesrepublik als Berliner Republik zu begreifen, bedeutete das - rückblickende - Eingeständnis dieser Verengung und zugleich das Signal, daß wir entschlossen sind, aus ihr herauszutreten.Denn es ist gar nicht zu bezweifeln, daß wir die jähe Wendung, die die Vereinigung dem bundesrepublikanischen Bewußtsein zugemutet hat, noch längst nicht bewältigt haben.Daß die kleindeutsche Lösung der deutschen Frage, auf die die Alt-Bundesrepublik sich zubewegt hat, in der sich die Westdeutschen häuslich und zunehmend mit gutem Gewissen eingerichtet haben, mit der Wiedervereinigung obsolet geworden ist - es hat das öffentliche Bewußtsein in Wahrheit noch gar nicht erreicht.Mit dem Kraftakt der Vereinigung ist diese Wende im bundesrepublikanischen Bewußtsein eher verdrängt worden.Und tatsächlich blieb in der Substanz doch das meiste beim alten - bei den alten Strukturen, den bewährten Gewohnheiten, also bei "Bonn", dem Inbegriff für die politische Befindlichkeit Nachkriegs(west)deutschlands.Die Formel von der Berliner Republik hebt das ins Bewußtsein - als eine aufgeschobene, aber nicht aufhebbare Aufgabe, als Herausforderung, als Ungewißheit über die Zukunft.Ist es das, was viele veranlaßt, sich gegen sie zu sträuben?

Es ist noch mehr und anderes.Diese kleindeutsche Lösung war ja wirklich eine Lösung: Alle die Probleme, mit denen die Deutschen in diesem Jahrhundert, zum Unglück ihrer Nachbarn und ihrer selbst, nicht fertig geworden sind, wurden in der Republik von Bonn weitgehend abgearbeitet - die verkorkste Nationalgeschichte, das antiwestliche Syndrom, die kritische Größe, die Deutschland zum Unruheherd in Europa machte.In Gestalt der Alt-Bundesrepublik war Deutschland - fast - mit sich im reinen, zumindest war es sich selbst genug - ideologisch abgerüstet nach innen, zum Partner geworden nach außen, zu seiner Vergangenheit in entschlossene, demonstrative Distanz getreten, bis an den Rand der Verleugnung der Nationalgeschichte.Die Frage, die dem Begriff der Berliner Republik die Brisanz einflößt, bezieht sich deshalb darauf, ob das alles mit der Vergrößerung Deutschlands, der "Normalisierung" seiner Nationalstaatlichkeit und dem endgültigen Ende der Nachkriegszeit zur Disposition gestellt wird.Mit Berlin hat Deutschland den alten geschichtsträchtigen, katastrophenträchtigen Boden erreicht: wachsen ihm nun wieder die alten, unheiligen Kräfte?

Dabei sind diese Befürchtungen und Vorbehalte schon bei der Debatte um den Hauptstadt-Beschluß ins Gefecht geführt worden.Das Erstaunliche und in gewisser Weise Beklemmende besteht darin, daß sie nun wieder auftauchen, obwohl sich doch diese Auseinandersetzung inzwischen als Gespensterdebatte erwiesen hat.Weder hat es in den vergangenen sieben gesamtdeutschen Jahren, die die Bundesrepublik hinter sich gebracht hat, Entwicklungen gegeben, die etwa auf einen neuen Zentralismus oder einen ausbrechenden Größenwahn hindeuten, noch hat die Vereinigung vermocht - was man ja auch hätte hoffen können -, der deutschen Politik die alte selbstzufriedene Befangenheit in Routine und Sicherheitssehnsucht auszutreiben.

Das zeigt, daß die Gründe für diese Reprise tiefer liegen.Es ist am Ende die Angst der Deutschen vor sich selbst, die auch in der Abwehr der Berliner Republik zu spüren ist.Sie schreckt die alten Schicksals-Themen aus dem Ruhestand wieder auf, in den sie ein halbes Jahrhundert Bundesrepublik geschickt hat: Deutschland und Europa, Deutschland und seine Vergangenheit, Demokratie und Staat.Es gibt da offenbar eine Erschütterung, die nicht vergeht.Sie treibt vor allem die Generation, die mit diesem Staat gelebt hat, dazu, sich an das Beispiel des Gelungen-Seins, an die Republik von Bonn, zu klammern.

Und die Phantasien von der neuen Rolle der Deutschen, gar einer Vormachtrolle? Sie haben den Vorzug, daß sie nie konkret werden.Das teilen sie mit den Postulaten eines Wandels des Staatsverständnisses, das dieses jenseits des gesellschaftlichen Vermittlung- und Abarbeitungsprozesses plaziert, und das, sofern es nicht etwas Selbstverständliches formuliert, kaum mehr ist als eine der vielen Luftnummern im Meinungskampf.Und die Herolde eines bevorstehenden Generationensprungs? Sie sind allesamt, sieht man es richtig, nicht so gebaut, daß sie mehr als ihren Anfang in die künftige Republik einbringen werden.

Vor allem: Die Bundesrepublik ist nicht ohne Spuren durch ihre Bonner Jahrzehnte gegangen.Die Bonner Republik war keineswegs nur eine Quarantäne-Station, in der die Deutschen eine Art Trockenskikurs in Demokratie absolvierten.Nichts ist wirklichkeitsferner als das in Mode gekommene Zurückstufen der Bonner Republik zur Idylle - als wäre sie gleichsam nur die Vorgeschichte der Bundesrepublik, die erst mit der Wiedervereinigung wirklich anfange.Die Bonner Republik ist, im Gegenteil, Schauplatz eines tiefpflügenden Wandlungs- und Reifeprozesses gewesen.Daß Bonn nicht Weimar sei, wie die alte Prüfformel für die Bundesrepublik hieß, hatte ja vor allem damit zu tun, daß es Weimar gegeben hat und seine Lektionen gelernt worden waren.Es rechtfertigt den Gedanken einer Berliner Republik und macht ihn zur Chance, daß es Bonn gegeben hat.Angst vor der Berliner Republik kann eigentlich nur haben, wer das nicht begriffen hat.

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