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Kultur: Die Apathie von Helden Aus dem Nachlass: der Franzose Julien Gracq

als Analytiker des Zweiten Weltkriegs.

Er steht ganz oben im Pantheon der französischen Literatur und ist hierzulande doch fast unbekannt geblieben. Noch zu Lebzeiten von Julien Gracq, der mit bürgerlichem Namen Louis Poirier hieß und 2007 mit 97 Jahren starb, begann sein Gesamtwerk in der Bibliothèque de la Pléiade zu erscheinen, wo es neben den „Strahlungen“ Ernst Jüngers steht, mit dem Gracq in Frankreich oft verglichen wurde. Die Wege der beiden haben sich in der Tat gekreuzt: Auf Youtube kann man sie in einem Filmausschnitt gemeinsam durch eine bretonische Ortschaft gehen sehen.

Später erinnert sich Gracq, wie er in Angers an der Loire „zwischen zwei Zügen“ die frischen Druckseiten der „Marmorklippen“ aufschneidet. Das muss kurz vor seiner Mobilisierung gegen den deutschen Blitzkrieg im Frühjahr 1940 gewesen sein. Gracq hatte 1939 mit seinem von André Breton begrüßten Roman „Auf Schloss Argol“ debütiert, war nach Bekanntwerden des Hitler-Stalin-Pakts aus der französischen KP ausgetreten und befand sich als Leutnant einer Infanterieeinheit im südlichen Flandern, als am 10. Mai 1940 die Wehrmacht Holland und Belgien zu besetzen beginnt. Von diesem Tag an bis zu seiner Gefangennahme am 2. Juni 1940 bei Dünkirchen datiert sein Kriegstagebuch, das jetzt aus dem Nachlass übersetzt vorliegt. Ohne den Vergleich mit Jünger allzu sehr zu strapazieren: Wie dessen „Strahlungen“ zeigen auch Gracqs Kriegstagebücher einen Phänomenologen in Uniform.

Gracq konnte im Februar 1941 aus der Kriegsgefangenschaft heimkehren. Erst danach hat er seine Notizen wohl komplettiert und aus ihnen eine Erzählung in der dritten Person zusammengefügt. Sie macht den zweiten Teil aus: Oft wiederholen sich Reflexionen und Beobachtungen bis in den Wortlaut hinein, doch folgt die Komposition der Erzählung einer anderen Ordnung: Am Ende steht nicht die Gefangennahme in der Verschanzung eines Kellerlochs, sondern die Beute eines deutschen Motorradgespanns, mit dem der Protagonist wenig anzufangen weiß. Heroismus ist ein alter Hut, der nur noch das Pathos von Filmen abruft.

Das willkürliche Hin und Her zwischen Flandern und Dünkirchen, von Befehlen eines unsichtbaren Generalsstabs diktiert, die demotivierte Truppe, die der Leutnant aus seiner eigenen Tasche versorgen muss, die Apathie der flämischen Bevölkerung, ganz zu schweigen vom unterlegenen Stand der Kriegsmaschinerie, machen den Krieg für Gracqs Alter Ego zu einer absurden Odyssee. Eigentliche Gefechte finden nicht statt, kaum dass es Schusswechsel gibt: Gracq registriert kühl den mehr und mehr durch anonyme Technik gesteuerten Krieg, in dem alles Heroische nur verbleichende Reminiszenzen an Bilder vergangener Siege sind.

Die Ernüchterung des Debakels erlaubt Gracq Beobachtungen, die außerhalb strategisch-taktischer Generalstabsrechnungen liegen, dafür Perlen eines tagtraumartig an der Realität entlanggleitenden Bewusstseins sind. Er registriert „mit Geographiekarten geschmückte Zigarettenschachteln“, „Rimbaud’sche Bahnhöfe in der tönenden Nacht“ oder „jäh das Verlangen, am Buffet Orangen zu kaufen“. Bei Gracq arbeitet das Imaginäre stets mit am Entstehen und Zerfallen des fragilen Phänomens „Realität“. Der Name eines Befehlshabers, „Admiral Nord“, löst Jules-Verne’sche Assoziationen aus, der triste Anblick zerschossener Ortschaften überlagert sich mit Phantasmagorien. Parallel zum Aufstieg dieser Traumwelten zerstieben die großen Worte und Gesten. Jan Röhnert

Julien Gracq:

Aufzeichnungen aus dem Krieg. Aus dem Französischen von

Dieter Hornig.

Droschl Verlag, Graz 2013. 192 Seiten, 22 €.

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