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Kultur: Die Ballade vom Zauberkreis

Tonho rennt. So wie schon sein Bruder rannte.

Tonho rennt. So wie schon sein Bruder rannte. So wie Pacu (Ravi Ramos Lacero), der Jüngste, rennen wird. Atemlos durch dieses karge Kakteen- und Sandland. Tonhos (Rodrigo Santero) großer Bruder ist tot. Er hat den Sohn des Nachbarn umgebracht. Da haben die Nachbarn seinen großen Bruder getötet. Da hat sein Vater Tonho angeschaut, und Tonho wusste, was er zu tun hatte. Darum rennt er jetzt. Er hat den Mörder seines großen Bruders umgebracht. Er ist zwanzig. Er wird nicht mehr lange leben. Bis der Blutfleck auf dem Hemd des Toten schwarz sein wird. Dann werden sie kommen, ihn zu holen. Er wird noch eine ganze Menge leben.

Kultur - ein System von festen Zeichen, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und der einzelne tritt hinein in diese Zeichenwelt, nicht als "Ich", das Ich ist die Illusion, die Hybris der ganz Späten, nein, als ein Zeichenerfüller. So war es immer, so ist noch jetzt, 1910 im innersten Sandland von Brasilien.

Das Schweigen der Männer

Der Berlinale-Gewinner Walter Salles ("Central do Brasil") hat diesen Film über eine Welt gemacht, in der die alten Zeichen noch gelten, stark und grausam. Es ist ein schöner, ein ruhiger, ein karger, ein üppiger, ein schmerzlicher Film. Ein Zauberkreis von einem Film. Denn die alten Welten sind rund. Salles zeigt, wie das Sandland leuchten kann. Wie Gesichter leuchten können. Aber sie tun es anders als unsere. Nicht im Vollbesitz eines eigenen Ich, das schon wieder leer wird, weil es so wenig noch weiß, sondern im Widerschein seiner Ahnung, seiner ersten Eroberung, zögernd und zweifelnd. Salles weiß genau, dass jede Eroberung ihren Preis hat - den Untergang einer Welt.

Tonho hat den Sohn des Nachbarn getötet. Wegen der Ehre. Dann kommt er ins Haus des Nachbarn, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Denn ehren muss man den anderen, wenn die eigene wiederhergestellt ist. Das unterscheidet die Blutrache vom Verbrechen. Tonho kommt aus einem Dasein, in dem alles noch eine Bedeutung hat. Daher braucht man auch nicht viel reden in solchen Welten, denn was in ihnen zu sagen wäre, ist immer schon gesagt worden. Das ist sehr gut, kinematographisch gesehen. Weniger Sprache, mehr Film! Wenn Film heißt, die Bilder sprechen zu lassen. Tonhos Gesicht und das Licht des Sandlands, das auf ihm liegt, ist Antwort genug auf die schweigende Regelwelt ringsum.

Aus dieser stummen Zwiesprache kommt die beinahe zerreißende innere Spannung von "Hinter der Sonne". Salles beobachtet den Untergang der alten Welt genau, aber er tut es wie im Vorübergehen, ohne etwas festhalten zu wollen. Es ist nur ein Augenblick, als der älteste Nachbarssohn seinen Vater fragt, ob es nicht Zeit wäre, mit Tonhos Familie aufzuräumen. Denn sie sind die Reicheren, sie nehmen sich das Land, auch von Tonhos Vater, und es ist irgendwann nicht mehr einzusehen, dass man sich von den Habenichtsen die eigenen Kinder umbringen lässt. Klingt logisch. Das ist der Fortschritt. Das Verbrechen möchte sich von der Blutrache emanzipieren, die Regellosigkeit von der Regel. Aber noch will der reichere Vater der reicheren Söhne nichts von solchen neumodischen Sachen wissen. Und für Tonhos Vater ist seine Ehre, sein Stolz, das letzte, was ihm noch bleibt.

Die Frau am Seil

Man wagt nicht, Tonhos Vater ins Heute zu denken. Wissen wir, was Demütigung bedeutet für ein traditionales Empfinden? Das Letzte, was einer verliert, ist sein Stolz. Nein, anders. Bevor einer seinen Stolz verliert, verliert er besser sich selbst. Das ist die eigentliche Infrastruktur des Terrors, die kein Krieg gegen den Terror zerstört.

Und dann ist da noch Pacus Gesicht. Das hellste, das schönste Gesicht des Films. Pacu, der von der vorüberfahrenden jungen Frau vom Wanderzirkus ein Buch geschenkt bekommt. Der fortan mit diesem Buch träumt. Meist träumt Pacu vom Meer. Und dann suchen Pacu und Tonho zusammen den Wanderzirkus. Sie sehen die junge Frau am Seil, alle Welten fangen an zu schwingen, und nichts ist unwirklicher als das Racheuniversum der Eltern. Bis das Blut am Hemd des Toten schwarz ist, wird Tonho bleiben. Dann wird es Zeit. Tonho muss zurück.

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