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Kultur: Die Barbaren sind wieder da

Der Berliner Prolog zur Biennale in Istanbul.

Er brüllt sich die Seele aus dem Leib – und das schon seit acht Jahren. Das Bild zeigt Sener Özmen mit nacktem Oberkörper, der mit der ganzen Kraft seiner Stimme ins Megafon schreit. 2005 entstand die Aufnahme des türkischen Künstlers und ist doch aktueller denn je. Für die 13. Istanbul-Biennale, die am 12. September beginnt, könnte sich das energetische Selbstporträt des türkischen Performers, sein existenzieller Ruf nach Redefreiheit, zum Leitmotiv entwickeln. Visionär hatte sich die alle zwei Jahre auf die gesamte Stadt verteilte Großausstellung schon vor Monaten das Thema Bürger und Stadtraum gewählt.

„Mama, bin ich barbarisch?“ lautet das Motto der Biennale in Anspielung auf die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Begriffs „Barbaros“ für den Fremden, der die Landessprache nicht beherrscht. In der Ausstellung, die sich in Werkhallen, Hafenspeichern, alten Postämtern und Bahnhöfen präsentieren wird, verkörpert das Barbarische eine Tugend: die kritische Auseinandersetzung mit dem Vorgegebenen. Die Dringlichkeit dieses Anliegens könnte seit den massiven Protesten auf dem Taksimplatz, die im Wesentlichen von Künstlern mitgetragen werden, nicht größer sein.

Noch vor der offiziellen Eröffnung der Großausstellung ist Özmens Megafon-Bild gegenwärtig in Berlin zu sehen, zusammen mit Werken weiterer Teilnehmer. Biennale-Kuratorin Fulya Erdemci hat im Kunstraum Tanas, den die in Istanbul ansässige Vehbi Koç Stiftung finanziert (zugleich Sponsor der Biennale), eine Ausstellung eingerichtet, die eine Ahnung davon gibt, wie politisch sich das Gesamtprojekt versteht. „Agoraphobia“ ist dieser Prolog überschrieben, der sich ebenfalls dem Verhältnis von öffentlichem Raum und freier Meinungsäußerung widmet.

Zu den eindrücklichsten Arbeiten gehört Amal Kenawys Performance „Silence of Sheep“ von 2009, bei der sie eine Schar Männer auf allen Vieren durch die Straßen Kairos kriechen lässt. Die Aktion endet mit der Verhaftung der ägyptischen Künstlerin wegen Beleidigung patriotischer Gefühle und männlicher Ehre. Performance erweist sich als Medium der Stunde, auch bei Cinthia Marcelle. Die Brasilianerin filmt acht Jongleure, die sich mit ihren Fackeln bei roter Ampel vor wartenden Autos zur Front formieren und keineswegs zurückziehen, sobald auf Grün umgeschaltet wird. Die Reaktion ist ein Hupkonzert, einen Moment lang bekommen die Fahrer eine andere Macht zu spüren, dann löst sich der Spuk auf.

Eine Geschichte des Urbanen erzählt der Hamburger Zeichner Christoph Schäfer mit seiner Serie „Die Stadt ist unsere Fabrik“ – angefangen mit den ersten Siedlungen bis hin zu den Protesten der Gegenwart. Ein Pitbull erklärt darin die Stadt zum Ort der Leidenschaft – oder des Untergangs. Istanbuls Bürger kämpfen um ihre Agora, die Kunst könnte dabei behilflich sein. Nicola Kuhn

Tanas, Heidestr. 50, bis 27. 7.; Di bis Sa 11 – 18 Uhr.

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