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Kultur: Die Debatte um den "sensationellen" Handschriftenfund in der ukrainischen Staatsbibliothekt

Als ein amerikanischer Musikwissenschaftler Anfang August dieses Jahres die Weltöffentlichkeit über einen "sensationellen" Handschriftenfund in der ukrainischen Staatsbibliothekt informierte, fragte sich die "Zeit": Muss jetzt die Musikgeschichte umgeschrieben werden? Harvard-Professor Christoph Wolff hatte nach jahrzehntelanger detektivischer Forscherarbeit in Kiew das im Zweiten Weltkrieg verschollen geglaubte Archiv der Berliner Sing-Akademie ausgegraben - einen 5000 Autographen umfassenden Schatz, in dem vor allem das Schaffen Carl Philipp Emanuel Bachs dokumentiert ist.

Als ein amerikanischer Musikwissenschaftler Anfang August dieses Jahres die Weltöffentlichkeit über einen "sensationellen" Handschriftenfund in der ukrainischen Staatsbibliothekt informierte, fragte sich die "Zeit": Muss jetzt die Musikgeschichte umgeschrieben werden? Harvard-Professor Christoph Wolff hatte nach jahrzehntelanger detektivischer Forscherarbeit in Kiew das im Zweiten Weltkrieg verschollen geglaubte Archiv der Berliner Sing-Akademie ausgegraben - einen 5000 Autographen umfassenden Schatz, in dem vor allem das Schaffen Carl Philipp Emanuel Bachs dokumentiert ist. Der 1714 geborene zweite Bach-Sohn gilt als einer der einflussreichsten Komponisten des 18. Jahrhunderts - über ihn sagte Mozart: "Er ist der Vater, wir sind die Bubn." Dank der 20 Passionen und 50 Cembalo-Konzerte ließe sich nun der Einfluss des Komponisten bis hin zum späten Beethoven endlich wissenschaftlich nachgeweisen. Nur einer kann die Euphoriewelle nicht verstehen, die der Fund in Deutschland ausgelöst hat: ein ukrainischer Dirigent namens Igor Blaschkow. Schließlich dirigiere er "seit über 30 Jahren" regelmäßig Stücke von Carl Philipp Emanuel aus dem Archiv. Damit habe sich Wolffs Behauptung, die Werke seien noch nie gespielt worden, als "Lüge" entpuppt. Die Frage, warum er sich mit dieser Enthüllung drei Monate lange Zeit gelassen habe, brachte den langjährigen Leiter des Staatlichen Sinfonieorchester der Ukraine nicht in Verlegenheit: Er sei nun einmal "ein viel beschäftigter Dirigent". Darum habe er im Gegensatz zu dem US-Wissenschaftler auch keinen großen Wirbel um die Werke gemacht, sondern sie eben einfach aufgeführt. Erfahren hat davon jenseits der ukrainischen Grenzen allerdings niemand. Da aber Kompositionen nun einmal allein im Moment ihres Erklingens zum Leben erwachen, bleibt Carl Philipp Emmanuels Opus zumindest im Westen eine Entdeckung wert und Blaschkows Lügen-Vorwurf eine Fußnote zu einem Problem, das eigentlich eine ganz andere Frage aufwirft: Warum hat die Berliner Singakademie bis zur Auslagerung ihres Archivs aus Berlin in die Nähe von Breslau 1943 niemals auch nur einen Forscher an die Bach-Manuskipte gelassen, deren musikgeschichtliche Bedeutung wahrlich nicht erst in unseren Tagen bekannt wurde? Immer mehr Archive im Jahrzehnte abgeteilten Osten Europas tun sich jetzt auf. Sie geben Historikern und Kulturweissenschaftlern manche Antworten - um wieder neue Rätsel aufzuwerfen. Fragen ohne Ende.

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