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Kultur: Die Dinge der Welt

Das britische Künstlerduo Gilbert & George hat ausrechnen lassen, daß die meisten Ausstellunsbesucher jedem Exponat etwa zwei Sekunden widmen.Nach diesem erhellenden Ergebnis richteten sie ihre Bildproduktion solchermaßen aus, daß der Betrachter bereits in der ersten Sekunde möglichst alles erfassen kann.

Das britische Künstlerduo Gilbert & George hat ausrechnen lassen, daß die meisten Ausstellunsbesucher jedem Exponat etwa zwei Sekunden widmen.Nach diesem erhellenden Ergebnis richteten sie ihre Bildproduktion solchermaßen aus, daß der Betrachter bereits in der ersten Sekunde möglichst alles erfassen kann.Gelingt es, dann mag auch das Wissen kommen und mit ihm die Erinnerung.Gilbert & George wollen die Sprache durch das Sehen in Gang setzen."Kontexte" geht den umgekehrten Weg.Die Ausstellung ist so komplex an Bezügen und so reich in der materialen Anordnung, daß sie nur als Erzählung erfaßt werden kann.Sekunden-Besucher gehen leer aus.

Erzählen braucht Zeit.Deshalb steht die Ausstellung, in der sich das Museum unter neuer Leitung vorstellt, quer zum zunehmend auf Popularität bedachten Museumsbetrieb."Mein Museum ist kein Bordell.Wir suchen nicht nach mehr Kundschaft, sondern nach mehr Aufmerksamkeit für die Dinge der Welt," sagt die Direktorin Annegret Nippa auf.In ihrer Antrittsausstellung dynamisiert das Wissen das Sehen.Wir verfolgen den Weg eines Objekts vom Erwerb eines Reisenden, zum Kauf des Museum von einem Händler über die Lagerung und Archivierung im Depot bis zum Ausstellungsobjekt in der Vitrine.

Die Dinge tragen Geschichten.Manche kann man übergehen, das Objekt unter ästhetischen Aspekten betrachten und den Kunstaspekt betonen.Man kann aber auch zeigen, was gekauft, geschenkt, getauscht wurde.Zum Beispiel schenkten Studenten aus Nigeria 1981 Erich Honecker als Dank die Skulptur eines Palmweintrinkers.Die Konturen sind verwaschen, die Proportionen unbeholfen.Wohl kein Museum hätte die Skulptur gekauft.Honecker mußte das Geschenk lächelnd annehmen - wie das Foto der Übergabe neben der Skulptur zeigt - und ließ es dem Museum weiterreichen.Offenbar, so der kurze Begleittext, hätten diese Nigerianer keinerlei Sinn für Skulpturen gehabt.Eine kleine Sensation sind die Karteikarten handgemalter Aquarelle der Sammlung.Das Museum läßt jedes Objekt durch eine detailgetreue Zeichnung registrieren.Allein damit ließe sich eine grandiose Ausstellung machen, die den haarfeinen Zeichnungen von Anita Albus kaum nachstünden.In der letzten der vierzig Vitrinen, von denen jede eine anderes Bezugsfeld beleuchtet, wird eine mit Eskimokleidung gezeigt.Sie wurde in den fünfziger Jahren als "Kofferausstellung" an Orten Sachsens ausgestellt.Wir sehen die damalige Ausstellungspraxis und können die heutige relativieren.Zur Ethno-Forschung gehört die Befragung derer, die die Dinge der Welt benutzen.Jetzt hat sich das Dresdener Museum als einziges überhaupt selbst befragt und dargelegt, daß nicht die ausgestellten Objekte, sondern der Umgang und die Fragestellung entscheidend sind.

Dresden, Museum für Völkerkunde, Japanisches Palais, bis 1.November

PETER HERBSTREUTH

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