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Kultur: Die Diplomaten und die Hinkelsteine

2010 erschien der Bericht zur NS-Geschichte des Auswärtigen Amts. Damit begann eine kontroverse Debatte.

Von Hans Monath

Kaum ein anderes historisches Werk hat die Öffentlichkeit in Deutschland in jüngster Zeit so sehr in den Bann geschlagen wie „Das Amt und die Vergangenheit“. Das 880 Seiten starke Buch über Deutschlands Diplomaten in der Zeit des Nationalsozialismus machte schon Schlagzeilen, bevor es im Herbst 2010 überhaupt ausgeliefert war. Der Umstand, dass auch das Auswärtige Amt (AA) in die Verbrechen der NS-Regierung involviert war, elektrisierte die Medien, obwohl Historiker dazu längst wichtige Forschungsarbeiten vorgelegt hatten.

Viele der zugespitzten Thesen des Buches und auch manche Sachbehauptungen sind seither von anderen Historikern relativiert oder sogar widerlegt worden. Die Herausgeber Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann argumentierten, das AA sei Wegbereiter der „Endlösung“ und selbstständiger Akteur der Judenvernichtung gewesen, während in der Nachkriegszeit eilig eine Widerstandslegende gestrickt wurde. Mit diesen Thesen standen sie im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, während die langsam einsetzende Fachkritik an ihren Deutungen später weit weniger Aufmerksamkeit fand.

Deshalb bieten mehrere Neuerscheinungen zum Thema nun Gelegenheit zu einer Bilanz. In den Büchern geht es nicht nur um das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte, sondern um die Gegenwart, um persönliche Eitelkeiten und Intrigen, um Machtkämpfe in einem ganz besonderen Ministerium, um die Misstrauenserklärung der „68er“ gegen ihre Vorgängergeneration und um unsere Maßstäbe im Umgang mit ehemaligen NS-Mitläufern.

Es war der damalige Außenminister Joschka Fischer, der kurz vor Ende seiner Amtszeit im Sommer 2005 eine unabhängige Historikerkommission damit beauftragte, die AA-Geschichte zu untersuchen. In den beiden Jahren zuvor hatte ein Erlass Fischers, NSDAP-Mitgliedern unter den Diplomaten in der hauseigenen Zeitschrift keine Nachrufe mehr zukommen zu lassen, eine Affäre ausgelöst, die für den Minister gefährlich wurde. Er stand wegen der Visa-Praxis seines Hauses ohnehin in der Kritik: Eine Reihe von ehemaligen und auch aktiven Diplomaten widersprach ihm damals öffentlich, was manche Beobachter fälschlicherweise als Kampferklärung des gesamten Hauses an den Minister werteten.

In seinem Gesprächsbuch mit dem Historiker Fritz Stern gibt Fischer über seine Motive Auskunft. „Plötzlich stand ich in einem Kulturkampf 1938 gegen 1968. Da habe ich allerdings gesagt: Ja, wenn ihr den wollt, Freunde, dann könnt ihr den haben. Als dann die Visa-Affäre hochkochte, ging’s richtig los. Da dachten die wohl, jetzt haben wir ihn. Ohne die ganze Visa-Affäre hätte die Frage der Nachrufe wohl niemals eine solche Wirkung entfaltet. Das habe ich mir alles ein Weilchen angeguckt, dann hatte ich die Faxen dicke und habe diese Kommissionsidee ausgebrütet. Mir war klar, dass ich da meinen letzten Stein in die Luft werfe, der lange in der Luft sein würde, sich während des Fluges aber auf wundersame Weise verändern und am Ende als Hinkelstein auf die römischen Legionäre niedergehen würde. Mir war zugleich klar, dass ich den Einschlag, das Erscheinen des Kommissionsberichts, selbst nicht mehr im Amt erleben würde.“

Zu einem „Kulturkampf 1938 gegen 1968“ stilisiert der Spät-68er Fischer seinen Konflikt mit jenen Diplomaten, die seine Nachrufpraxis damals für menschlich und politisch schäbig hielten. Der Berliner Zeitgeschichtler Daniel Koerfer nimmt diese Kampfansage in seinem Buch „Diplomatenjagd“ dankbar auf – und stürzt sich selbst mit wildem Eifer in die Deutungsschlacht. Um „eine Strafaktion“ gegen sein unbotmäßiges Haus, so Koerfers Urteil, sei es Fischer gegangen. Dabei habe der Grünen-Politiker eine Doppelmoral an den Tag gelegt, da er einerseits mit „Rigidität, Schärfe und Unerbittlichkeit“ NS-Mitläufer ohne persönliche Schuld an Verbrechen verfolgt, andererseits ehemals linksradikalen Gefährten auch aus dem „terroristischen Umfeld“ mit Nachsicht begegnet sei und ihnen sogar Jobs im AA besorgt habe. Wenn es nach Koerfer geht, dann haben die 68er mit Fischers Historikerkommission ihren letzten öffentlichen Triumph gefeiert – ihnen diesen wieder zu entwinden, ist sein wichtigstes Ziel.

Koerfers Buch liest sich teilweise wie ein Krimi, ist meinungsstark, detailversessen und auffällig gut über jüngste Vorgänge im AA informiert. Trotzdem stößt es den Leser durch seine polemische Argumentation und überzogene Wertungen immer wieder vor den Kopf. Das Urteil über den Umgang Fischers mit den Irrtümern der eigenen Generation ist so bedenkenswert wie der Hinweis auf den Aufsatz Bernard Schlinks im „Merkur“, in der er 2011 eine „denunziatorische Geschichtsschreibung“ kritisierte und vor moralischer Selbstgewissheit von Spätgeborenen warnte.

Doch wie weit soll man einem Historiker trauen, der in seinem Kampf gegen einen vermeintlich triumphierenden Linksradikalismus urteilt, in Deutschland werde Stalins Anteil an der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs „vergessen und machtvoll beschwiegen“? Dass es ein deutsches Staatsoberhaupt namens Joachim Gauck gibt, dessen Vater in sowjetischen Lagern saß und der selbst jahrelang als Behördenchef kommunistische Staatsverbrechen aufgearbeitet hat, muss Koerfer entgangen sein.

Dass Koerfer sich zum Deutungskämpfer berufen sieht, schmälert seine wissenschaftlichen Bemühungen. Viele Quellen hat er selbst ausgewertet und präsentiert noch einmal eine Fülle von Indizien, die das Urteil der Kommission an zentralen Stellen erschüttern. Entlastendes, so einer seiner Hauptvorwürfe, hätten die „Amt“-Autoren systematisch unterschlagen. Für ihn hat die Kommission sich zum Büttel von Fischers Vorgaben gemacht und politische Auftragsforschung vorgelegt. „Hitlers willige Diplomaten im Visier von Fischers willigen Historikern“, heißt ein Kapitel.

So legt Koerfer dar, die berühmte Reisekostenabrechnung des Diplomaten Franz Rademacher („Reisezweck: Liquidation von Juden in Belgrad“) sei zwar 1943 eingereicht worden, in Wirklichkeit aber auf eine zwei Jahre zuvor absolvierte Reise bezogen gewesen. Damals sei der systematische Völkermord noch nicht vorbereitet worden, es sei es im Zuge von Vergeltungsmaßnahmen für Partisanenüberfälle um Geisel-Erschießungen auch von Juden gegangen. Auch der Diplomat Franz Nüßlein, dessen Nachruf Fischer auf den Plan rief, erscheint bei ihm in einem anderen Licht. So weist er darauf hin, dass das tschechische Urteil von 1948 über den Besatzungsjuristen ihm ausdrücklich „Guttaten“ gegenüber tschechischen Bürgern bescheinigte, weil er Menschenleben gerettet habe. Die „Kommissions“-Autoren hatten das Urteil nicht ausgewertet. „Ein ,Blutrichter’ war Nüßlein niemals und zu keinem Zeitpunkt“, urteilt Koerfer. Er kommt so zu dem Schluss, das AA sei „zu keinem Zeitpunkt zentral am Entscheidungsprozess in Richtung eines staatlichen Völker- und Massenmordes an den europäischen Juden beteiligt gewesen“. Mit diesem Urteil steht Koerfer nicht allein. So hatte bereits 2011 Johannes Hürter vom Institut für Zeitgeschichte ein vernichtendes Urteil über „Das Amt“ gefällt: Die Bemühungen um ein differenziertes Bild des Holocaust seien durch pauschale und ungedeckte Urteile des Sensationsbuchs erheblich zurückgeworfen worden, monierte er. Insbesondere wies er die These zurück, das AA habe von 1940/41 an „eine leitende Rolle in der Judenpolitik“ zu spielen begonnen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch eine Historiker-Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing im vergangenen Sommer.

Wer sich über die Diskussion zum „Amt“ ein Bild machen will, findet dazu nun in dem von Martin Sabrow und Christian Mentel herausgegebenen Band „Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit“ eine Auswahl von wichtigen Texten und eine kluge Einordnung. Der Band zeigt musterhaft, wie eine am Dialog mit der Öffentlichkeit interessierte Zeitgeschichtsforschung ihre Erkenntnisse gut sortiert vor dem Publikum ausbreiten kann, um es zu einem eigenen Urteil zu befähigen. Da auch die Wertungen überzeugen, ist das Taschenbuch dringend zu empfehlen. Eines seiner Ergebnisse lautet, dass der Umgang des AA mit seiner Vergangenheit einen „Dammbruch“ auslöste und damit andere Ministerien, aber auch Institutionen wie Universitäten dazu bewegte, ihre Geschichte zwischen 1933 und 1945 wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen.

Eher an Spezialisten wendet sich der Band „Widerstand und Auswärtiges Amt“, der mehr als ein Dutzend Diplomaten vorstellt und ein differenziertes, nicht leicht auf einen Begriff zu bringendes Bild der NS-Skeptiker, -Kritiker und -Gegner unter ihnen zeichnet, darunter auch Ernst von Weizsäcker. Einer der zwei Herausgeber, Jan Erik-Schulte, gehörte auch zu den Autoren von „Das Amt und die Vergangenheit“. Das Buch wirkt wie der Versuch einer Differenzierung beziehungsweise wie ein neuer Blick auf ein Phänomen, dem die Historikerkommission zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Auch „Amt“-Herausgeber Conze ist unter den Autoren. Die These von der zentralen Bedeutung des AA bei der „Endlösung“ wiederholt er in seinem Beitrag nicht, sehr wohl aber die vom nach 1945 geschaffenen „Mythos“ vom AA als Hort des Widerstandes. Heute, konzediert Conze, habe sich das Ministerium vom beschönigenden Selbstbild gelöst und stehe dazu, dass es nur wenige NS-Gegner in seinen Reihen gegeben habe.

Auch aus dem Auswärtigen Amt heraus ist mehrfach versucht worden, die Thesen Conzes und seiner Kollegen zu erschüttern, die seit ihrem Erscheinen zum Kanon der Attaché-Ausbildung zählen. Der Ex-Diplomat Wolfgang Schultheiss bemüht sich nun in seinem Buch „Zuspitzungen“, ohne Quellenstudium, gestützt allein auf Aufsätze und Werke von Historikern, die Übertreibungen der Kommission aufzuzeigen. Er tut das mit hoher Integrität und mit einem versöhnlichen Gestus, der anders als Koerfer auch die von ihm Kritisierten achtet. So kommt er zu dem Urteil, der Kommissionsbericht werde „trotz – oder gerade wegen – seiner Mängel“ im Ausland „als Zeichen dafür gewertet, dass sich Deutschland der eigenen Vergangenheit ohne jegliche Rücksichtnahme stellt“. Das ist dialektisch gedacht – und wahrscheinlich richtig gesehen.

Joschka Fischer, Fritz Stern: Gegen den Strom. Ein Gespräch über Geschichte und Politik. C.H. Beck, München 2013. 244 Seiten, 19,95 Euro

Daniel Koerfer: Diplomatenjagd. Joschka Fischer, seine Unabhängige Kommission und das Amt. Strauss Edition, Potsdam 2013. 544 Seiten, 24,90 Euro

Martin Sabrow, Christian Mentel (Hg.): Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit. Eine deutsche Debatte. Fischer Taschenbuch, Frankfurt a.M, 2013. 406 Seiten, 12,99 Euro,

Jan Erik Schulte, Michael Wala (Hg): Widerstand und Auswärtiges Amt. Diplomaten gegen Hitler. Siedler, München 2013. 352 Seiten, 24,99 Euro

Wolfgang Schultheiss: Zuspitzungen. Anmerkungen zu ,Das Amt und die Vergangenheit’. LIT Verlag, Berlin 2013. 148 Seiten, 19,90 Euro.

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