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Kultur: Die Domino-Legende

Bagdad ist nicht Saigon. Dennoch bietet die Geschichte des Vietnamkriegs Lehren für den Irak

Niemand kann sich mehr sicher fühlen im Irak. Täglich sterben amerikanische Soldaten, und der tödliche Bombenanschlag auf die Kaserne italienischer Truppen vom Mittwoch zeigt, wie bedroht auch die alliierten Hilfstruppen sind. Erschöpfte Truppen stehen schwer greifbaren Gegnern gegenüber und ein Ende des Terrors ist nicht in Sicht. Das Szenario kommt vielen bekannt vor, und es trägt einen Namen: Vietnam. Selbst US-Soldaten, die in den Morgenstunden verschlafene Familien aus den Betten zerren, fühlen sich wie in Vietnam. „Es gibt keinen Grund, warum wir hier sind“, sagt ein Ranger einem französischen Kamerateam.

Die Parallelen zwischen Irak und Vietnam liegen also auf der Hand. Wieder verstricken sich die USA in einen Guerillakrieg. Wieder scheint eine Administration nicht über eine „exit strategy“ zu verfügen. Nicht nur die Regierung, sondern die Nation als Ganzes droht wieder ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Aber der Irak ist nicht Vietnam. Damals unterstützten die Vereinigten Staaten ein unpopuläres südvietnamesisches Regime, das gegen die Mehrheit der Bürger Krieg führte. Die Gegner waren nicht eine diffuse Gruppe von versprengten Saddam-Anhängern und militanten Anti-Amerikanern, die mit Terror auch gegen die eigene Bevölkerung Chaos stiften wollen. Damals war der Gegner eine organisierte, von der Bevölkerung mehrheitlich getragene Widerstandsbewegung, die weite Teile Südvietnams kontrollierte und von nordvietnamesischen Streitkräften unterstützt wurde. Sie verfügte über Rückzugsgebiete in Nachbarländern und über massive Militärhilfe aus China und der Sowjetunion. Im Unterschied zu damals, als die Geheimdienste beständig vor einer Unterschätzung des Gegners warnten, sind sich Militärstrategen diesmal darin einig, dass die USA eine dramatische Eskalation der Lage verhindern können. Die Bevölkerung des Irak ist erleichtert über das Ende des brutalen Saddam-Regimes, die Nachbarstaaten versagen den Rebellen die Unterstützung, und nach dem Ende des Kalten Krieges hat keine Großmacht ein Interesse an Stellvertreterkriegen.

Dennoch hält Vietnam einen historischen Erfahrungsschatz bereit, den zu berücksichtigen es lohnt. Wie damals bildet eine fragwürdige geostrategische Theorie die Grundlage politischen Handelns. Und wieder versuchen die USA einen neuen Staat zu errichten.

Das amerikanische Engagement in Vietnam gründete in der Vorstellung, dass der Sieg des Kommunismus in einem Land Südostasiens zwangsläufig zum Erfolg des Kommunismus in anderen Staaten der Region führen werde. Diese „Domino-Theorie“ rechtfertigte Militär- und Wirtschaftshilfen an Südvietnam sowie die Entsendung von immer mehr Militärberatern und Antiguerilla-Spezialisten und schließlich, als alle anderen Mittel versagten, den Einsatz amerikanischer Bodentruppen. Die Angst vor einem Domino-Effekt verstellte den Blick auf den national- kommunistischen Charakter des nordvietnamesischen Regimes und seiner Anhänger im Süden. Ho Chi Minh war keine Marionette des Kreml, und es gibt keinen Hinweis, dass Hanoi plante, allein oder mit Hilfe Maos Südostasien für den Kommunismus zu erobern.

Präsident Bush hat die Domino-Theorie aus der Asservatenkammer der Geschichte geholt. Es ist davon überzeugt, durch den Sturz der Diktatur im Irak einen Transformationsprozess in der gesamten Region auslösen zu können. Der Aufbau eines demokratischen Irak soll die Regierungen von Teheran bis Rabat unter Druck setzen und diese zu gesellschaftlichen Reformen zwingen. Die BushAdministration glaubt, dass Demokratien keinen Krieg gegen andere demokratische Staaten führen. Ein demokratischer Irak soll somit auch die Sicherheit Israels langfristig gewährleisten. Ob sich dieses „grand design“ verwirklichen lässt, ist jedoch zweifelhaft. Es beruht wie die Domino-Theorie der Fünfziger- und Sechzigerjahre auf Annahmen.

Auch gegenüber dem internationalen Terrorismus wirkt die Domino-Theorie. Sie unterstellte Verbindungen zwischen islamisch- fundamentalistischen Organisationen, dem Saddam-Regime und anderen „Schurkenstaaten“. Tatsächlich sorgt nun aber die amerikanische Irakpolitik dafür, dass sich Terrornetzwerke bilden, die auf die Duldung staatlicher Institutionen im Nahen und Mittleren Osten hoffen können.

Was den Aufbau eines neuen Staates betrifft, lässt sich von Vietnam lernen. In den Fünfzigern wollte die Eisenhower-Administration Südvietnam mit Wirtschaftshilfe und Demokratisierung zu einem „Schaufenster“ des Westens machen. Dies scheiterte kläglich, weil das Interesse rasch erlahmte und die Entwicklungshilfe bald erheblich zurückgefahren wurde. Und es scheiterte daran, dass die USA ihrem Klientelregime zwar westliche Institutionen aufnötigten, aber deren Verhalten nicht steuern konnten. So baute die Thieu-Regierung wie ihre Vorgänger Südvietnam zu einem Polizeistaat aus, der die Bürger gegen sich aufbrachte. Ähnliches könnte sich im Irak wiederholen, wenn es nicht gelingt, eine Regierung zu etablieren, die auf die Loyalität der Bürger zählen kann.

Die Lehren Vietnams sind somit paradox: Vieles spricht dagegen, dass Amerika sein Ziel eines demokratischen Iraks verwirklichen kann, das stabilisierend auf die Region wirkt. Aber da die USA nun einmal im Irak sind, gilt es, Strategien zu entwickeln, die ein zweites Vietnam verhindern. Die Vereinigten Staaten werden noch über Jahre hinweg Truppen stationieren müssen. Zugleich muss ihre Präsenz so unauffällig wie möglich sein. Sie sollten jede demokratisch legitimierte Regierung unterstützen, auch wenn sich die Iraker für ein islamisches Regime entscheiden. Und sie werden über viele Jahre hinweg Aufbauhilfe leisten müssen, die nicht an Bedingungen geknüpft sein sollte. Die künftige irakische Regierung muss sich legitimieren können, um akzeptiert zu werden. Die Vereinigten Staaten sollten daher das Risiko eingehen, dass Gelder veruntreut oder zweckentfremdet werden. Entscheidend ist, dass Regierung und irakisches Volk über ihre Zukunft selbst bestimmen können.

Unter dem Eindruck der Domino-Theorie erklärte Präsident Johnson vor fast 40 Jahren, die Freiheit West-Berlins werde in Saigon verteidigt. Heute kann sich Deutschland der von einer Neuauflage der Domino- Theorie geprägten amerikanischen Außenpolitik nicht einfach entziehen. Im Interesse der gemeinsamen Sicherheit und der Menschen im Irak muss es seinen Beitrag leisten. Ein Schuldenerlass wäre ein Anfang. Ein zweites Vietnam darf es nicht geben.

Der Autor ist Verfasser der „Geschichte des Vietnamkriegs“ (Beck’sche Reihe, 1998)

Marc Frey

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