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Kultur: Die doppelte Barbara

Meisterschaft der Abweichung: Erstaufführung der Kammeroper „One“ von Michel van der Aa bei den Berliner Festwochen

Musiktheater, szenische Musik, Monodrama, Klangtheater: Das sind Begriffe, mit denen Komponisten oder bildende Künstler heute vielfach jonglieren. Auch für Michel van der Aa, den jungen niederländischen Filmemacher, Ton- und Geräuscheschöpfer, stehen Theater und Video der Musik sehr nahe. Das Ineinandergreifen der Künste und moderner Technik bringt Entdeckungen hervor, die sich doppelt ins Gedächtnis einbrennen. Kleine Gesamtkunstwerke, die der Gegenwart gehören wie das Film-Musik-Projekt „The Long Rain“ von Michael Kreihsl und Olga Neuwirth oder das Klangtheater mit Video von Peter Eötvös „As I Crossed a Bridge of Dreams“ nach dem Tagebuch einer japanischen Hofdame aus dem Jahre 1008, beide in Donaueschingen uraufgeführt, das Monodram sehr bewegend mit der Schauspielerin Claire Bloom.

Van der Aa übertrifft diese Kombinationswerke an Eigenständigkeit. Denn er verfertigt sich alles selbst: Musik, Bild und Buch. Das Verhältnis von Mensch und Technik wird von ihm mit einer neuen Heftigkeit strapaziert. Das Komplizierteste ist ihm das Spannendste. Somit wirkt es seltsam zurückgenommen, dass der alles umfassende Komponist sein Stück „One“ schlicht eine Kammeroper nennt, eine „Kammeroper für Sopran, Video und Soundtrack“. Dabei sieht er sein Werk als ein musikalisches Pendant zu den Bildern von M. C. Escher, was die Verzerrung von Wirklichkeit angeht.

Das Festwochenpublikum bevölkert nach freundlich geführtem labyrinthischen Anmarsch durch das Haus der Berliner Festspiele eine eigens errichtete Tribüne auf der Hinterbühne, um in dem so gewonnenen intimen Raum die deutsche Erstaufführung von „One“ zu erleben.

Die kanadische Sopranistin Barbara Hannigan ist musikalischer und theatralischer Gegenpart zu vorher aufgenommenen Bildern, Tönen und Texten. Zunächst ist eine stille Atmosphäre aus leisen Knackgeräuschen und langen Pausen so inszeniert, dass Papier, der Notizblock als Instrument des kritischen Handwerks, mit äußerster Vorsicht umgeblättert sein will. Jedes Nebengeräusch stört, so unbedingt ist die Stille komponiert.

Dann tritt Barbara I auf die Bühne, um mit Barbara II auf dem Video zu kommunizieren. Die Barbara auf dem Video ist das Alter Ego der Barbara auf der Bühne. Van der Aa nennt sie die beiden Hälften derselben Person.

Was sich nun ereignet, mag ein wenig narzisstischer Selbstzweck eines mit allen Wassern gewaschenen Videokünstlers sein, der Tontechnik studiert hat (wobei ihm die Gelegenheit zuteil wurde, „in anderer Leute Partituren herumzuschnüffeln“) und später in New York Filmregie.

Und doch: Das Ergebnis ist ein Wurf, weil das Formprinzip der Spiegelung von Einsamkeit mit der listigsten Virtuosität ausgeführt wird. Ein innerer Monolog verbindet die beiden Barbaras, die mit der einen goldenen Kehle von Barbara Hannigan singen. Tonrepetitionen sind nicht selten, sie bilden das Grundmaterial , aus dem sich Dramatik entwickelt oder das sich zu einem Background-Chor weitet.

Denn bei der schönen blonden Frau im schwarzen – auf Video textgemäß ein kurzes Mal auch weißen – Kleid kommt es auf den Bruchteil der Sekunde an, gleichsam auf die Millisekunde, wenn sie mit ihrem Alter Ego duettiert. Die zwanghafte Suche einer Frau nach sich selbst greift zwischen den beiden Parts immer schneller ineinander, die Sängerin und Schauspielerin ist massiv der Aufnahme von Bild und Ton ausgesetzt. Ohne sich in ein eigenes Timing flüchten zu können, ist sie auf der musikalischen Jagd. Die beinahe synchronen Bewegungen zeigen ihre Meisterschaft in der Abweichung. Das charakteristische Geräusch kommt von zerbrechenden Zweigen, die sanft knacken, aber auch explosiv knallen können. Dieses Geräusch ist für Michel van der Aa „vielleicht das schönste, das ich kenne“, organisch und dramatisch zugleich.

Ältere Frauen in Großaufnahme, Charakterköpfe allesamt, schildern wie im Interview sprechend auf dem Video ihre Begegnungen mit der Protagonistin, die in einer magisch beleuchteten Kammer das Erzählte spielt und mit Kerzen und ihren geknackten Zweigen in Einweckgläsern sich manisch wiederholt. Gefängnis sind auch Mauergänge und Kellergewölbe, Sammellager der vielen in schriftlicher Buchführung gezählten Holzteile, die ihr gleichförmiges Leben hinterlässt.

Mit seiner Absenz von Personenpsychologie hat das Stück eine Generationen übergreifende Aura, weil es seine Geheimnisse mit der Klarheit eines Spiegels reflektiert.

Noch einmal am 12. 10., 20 Uhr.

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