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Kultur: Die Dritte Welt der Musik

Deutsche Tanzmusiker sind hässlich und anspruchslos, sagt Heinz Strunk, der selbst einer war. Stimmt das noch? Ein Ortstermin beim Schützenfest

Seid Ihr alle gut drauf? Ja, sind wir.“ Godehardt Schönherr, Bandleader der Tanzkapelle „Hitmix“, stellt keine Fragen, die er nicht selbst beantworten kann. Die Generation 60 Plus, die sich unter ihm auf der Tanzfläche tummelt, interessiert sich nicht für die Einwürfe des Mannes mit der E-Gitarre. Die Tänzer wollen unterhalten werden. Und sie unterhalten sich prächtig. Die Stimmung auf dem Königsball der Sachsenwalder Schützen ist ausgezeichnet, hier braucht man keinen Einpeitscher wie auf dem Oktoberfest, der brüllt, dass man „We will rock you“ mitsingen und die Hände zum Himmel recken soll. Der „Anton aus Tirol“, den Schönherr nach zwei Tänzen als Pausenmelodie einspielt, stößt in Geesthacht, einem kleinen Ort 30 Kilometer vor Hamburg, allerdings auf wenig Zuspruch.

Auf dem platten Land herrschen, was das Feiern angeht, besondere Regeln. Welche, das hat Schönherrs ehemaliger Kollege Heinz Strunk in seinem Bestseller „Fleisch ist mein Gemüse“ beschrieben. Er selbst ist zwölf Jahre über die Schützen- und Dorffeste getingelt; war ein Tanzmusiker, ein „Mucker“, der sich am Wochenende von Gastwirten und Vereinsvorständen gegen Bares anheuern ließ. Es war eine Tortur. „Weiber waren leider totale Fehlanzeige, denn Tanzmucker bewegten sich mit ihrem Sozialprestige ungefähr auf dem Niveau von Aushilfskellnern. (…) Man wurde nicht als Musiker wahrgenommen, sondern als armes Würstchen, das auf der Bühne herumhampeln muss, damit es finanziell irgendwie reicht. Hinzu kam, dass keiner von uns auch nur im Entferntesten attraktiv war.“

Heute geht es Strunk besser. Als Musiker und Teil des Hamburger Anarcho-Comedy-Kollektivs „Studio Braun“ hat er sich aus seiner Muckerstarre gelöst, von 2000 bis 2001 hatte er eine eigene Show auf Radio Fritz, die „Jürgen-Dose-Show“(eines der vielen Pseudonyme von Strunk, der mit bürgerlichem Namen Mathias Halfpape heißt), um schließlich mit „Fleischmann tv.“ den Musiksender Viva zu infiltrieren. Strunk hat es zu Starruhm in der deutschen Popszene gebracht. Mit „Fleisch ist mein Gemüse“, kürzlich bei Rowohlt erschienen und inzwischen schon über 48 000 Mal verkauft, ist Strunk im Feuilleton gelandet. Schreiben kann er nämlich auch.

Er trägt das ergraute Haar kurz. Durch temporäres, aber häufiges Fasten ist er sehr schmal geworden. Die Akne, die seine Erfolgschancen bei den Mädchen stark sinken ließ, ist verschwunden. Doch die Erinnerung an die Zeit, als er sich sein Geld als Gelegenheitsmusiker zwischen Hamburg-Harburg, Geesthacht, Lüneburg und Moorwerder verdient hat, ist immer noch präsent. „Stammessen“, „Stützbier“ und „Eihunger“: In seinem Roman beschreibt er die merkwürdigen Rituale seiner Jugend auf dem Lande. „Stammessen“ gibt es nach dem Bühnenaufbau, „Stützbiere“ genehmigen sich Mucker, um durchzuhalten und „Eihunger“ ist das, was man nach so einem anstrengenden Abend bekommt. Der muss unbedingt mit fünf bis sechs Spiegeleiern gestillt werden.Ansonsten sind Tanzmusiker, wie ihr Publikum, leidenschaftliche Fleischesser. Das führt, Strunks Beschreibung zufolge, zu einer bemerkenswerten Physiognomie: „Gurkie, typischer Leptosom mit dünnen Ärmchen und Beinchen, sah aus wie ein zerrupfter Truthahn. Bleich, unzählige Leberflecke, trotz schmächtiger Erscheinung Schwimmring und Autofahrerbäuchlein. Norbert, jugendlich-straffe, leicht gebräunte Haut, jedoch als schweres Handikap ausladendes Becken; er war rhombenförmig. Jens, untersetzt, feist, vierschrötig, Typus Hummel. Thorsten, Pykniker wie aus dem Lehrbuch, Rücken, Schultern und Brust stark verpickelt, Oberschenkel dick wie Fußgängerampeln, trotzdem fest, kompakter Gesamteindruck. Ich, weiß wie eine Wand, komplett zugepickelt, wenige unsymmetrische Haarinseln, Ansatz zur männlichen Fettbrust, den sog. Herrentitten, trotz Normalgewicht irgendwie eingefallen, schwabbelig wirkend.“

So sah sie aus, die glamouröse Fünferformation „Tiffanys“ im Jahre 1985. Hat sich daran 20 Jahre später etwas geändert? Oder hat sich die Provinzialität der Bundesrepublik der Achtziger auf dem Land wie in einem Reservat erhalten? Strunk zuckt die Achseln. Sind immer noch 90 Prozent aller schrottreifen Mercedes, die am Wochenende die Autobahnen verstopfen, mit Tanzbands besetzt, die gerade auf dem Weg zur Mucke sind? Strunk nickt. Sprechen kann er augenblicklich nicht, er isst ein Käsebrötchen. Lebt die Muckerkultur also noch? Handelt es sich bei ihr wirklich um eine Art Paralleluniversum zur Welt der populären Musik, wie Sie in „Fleisch ist mein Gemüse“ schreiben – um die: „Dritte Welt der Musik“? Strunk: „Das erklärt sich ganz gut von selber. Das ist eben so: Die im Dunkeln sieht man nicht. Schattendasein. Alles, was medial nicht wahrgenommen wird.“

Auf den Landstraßen zwischen Schwarzenbek und Geesthacht findet man Hinweise zu diesen medialen Schattenexistenzen. „DANCE NOW!“ steht auf Plakaten an Weidezäunen oder Stromkästen. Dance now mit der Band „Blaswerk“. Wie lange wird das da schon hängen? Kurz vor Geesthacht kommt die Konkurrenz ins Blickfeld: „Ü 30 – DAS ORIGINAL“ ist an eine Scheune gepinnt. Die „Pepperkorns“ spielen auf. Das Hotel „Stadt Hamburg“ steht direkt am Dorfteich. Heute: „Königsball des Geesthachter Schützenvereins“ ist an die Tür geklebt worden. Für Unterhaltung und Tanz sorgt wieder „Hitmix“. Diese Dreierformation ist aus Strunks Combo „Tiffanys“ hervorgegangen. Im Hotel tagt das „Paralleluniversum“.

Es ist halb sieben, und es gibt teuren Sekt und für die Unverbesserlichen Bier. Hin und wieder läuft eine blond gelockte Dorfschönheit im weißen Minirock durch den Raum, den roten Cowboyhut nervös in der Hand knautschend. Ansonsten sind nicht viel junge Leute anwesend – das größte Problem der Schützenvereine: Der Nachwuchs bricht ihnen weg.

Momentan ist aber erst mal Euphorie angesagt, schließlich ist der Königsball der wichtigste Ball des Jahres in Geesthacht. Der wirklich schöne Tanzsaal mit Parkettboden und Kronleuchtern ist nett hergerichtet, eine zehnköpfige Serviererinnen-Garde wartet auf den Startschuss. Auf die Frage, wo man sich denn als Zaungast am unauffälligsten platzieren könnte, kommt die prompte Antwort: Auf dem Klo. Der Wirt weist auf einen langen Tisch neben dem Eingang: „Hier, junge Frau, können se sich hinsetzen. Ist alles noch frei.“

Es ist kalt, Strunk hatte Recht. Die Wirte, schreibt er in „Fleisch ist mein Gemüse“, sind darauf bedacht, die Heizkosten niedrig zu halten. Strunks Ex-Kollege Godehardt Schönherr, der gerade damit beschäftigt ist, das Mikrofon zu richten, erklärt sich zu einem Gespräch über die Tanzmusikerszene bereit. Schönherr, Begründer eines Konzertbüros gleichen Namens und Teil der Tanzkapelle „Hitmix“. Bei den Tiffanys nannten sie ihn noch „Gurki“. Er sieht gut aus – randlose Brille, gepflegte Erscheinung. Mit dem frisch gezapften Bitburger und einem starken Kaffee begeben wir uns ins Nebenzimmer, um die wichtigste Frage des Abends zu klären: Hat sich die Mucker-Kultur in den letzten 20 Jahren verändert, was ja nichts anderes meint als: Hat sich das Land in den letzten 20 Jahren verändert?

Doch bevor sich Godi dazu äußern kann, macht Gregor, der Keyboarder von Ex-Tiffanys und lange Zeit Profimusiker in einer Gala-Band, eine nahezu spektakuläre Bemerkung: „Wissen Sie eigentlich, woher der Ausdruck ,Mucker’ stammt?“ Kopfschütteln. „Von Mugge: Wie Musikalisches Gelegenheitsgeschäft.“ Das habe ihm mal ein sehr alter Musiker erzählt, berichtet Gregor weiter. Auf der „Europa“, als er für Udo Jürgens ein Lied anstimmen durfte? Jetzt schüttelt Gregor den Kopf. Nein, nein, ein älterer Herr sei es gewesen, irgendwo auf einer der unzähligen Tanzveranstaltungen, die er schon mitgemacht habe seit 1982.

Strunks Alter Ego „Heinzer“ trifft in „Fleisch ist mein Gemüse“ auch so eine Type – auf dem Klo. Seine Bemerkung zur Musik, „Viel Afrika und wenig Bavaria“, habe so manchen Musikwissenschaftler das Fürchten gelehrt, schreibt Strunk. Ihm selbst ist das vollkommen klar: „Dass wir so vielen modernen Schwachsinn spielen, hat er gemeint und viel zu wenig ,Tief drin im Böhmerwald’.“

Godehardt Schönherr sagt dazu: „Die Gesellschaft hat sich ja in den letzten Jahren auch sehr verändert. Die Leute haben ein immer kleineres Budget und wollen erstklassige Musik – das ist die Erwartungshaltung seit Einführung des Kabelfernsehens. Und der AOL-Arena.“

Die AOL-Arena, das ist Hamburgs prächtiges, von dem Internetprovider finanziertes neues Fußballstadion. „Man geht mit 15 Jahren zu ,Guns N’ Roses’ ins Stadion – und ich sag dufte, ich komme mit – und beim nächsten Abi-Ball sagt man: Was ist das denn hier? Da will ich nicht sein – wo ist das nächste Riesenevent? Die Superstars werden immer jünger, die Kiddies werden immer jünger. Und wir als Dienstleister sagen: Wir machen mit unseren Mitteln einfach das Beste daraus.“

Punkt acht beginnt das Fest, erst mit einer komplizierten Rede vom Schützenvereinsvorstand, der Majestät, Adjutant, Präsident, Bürgermeister, Vorsitzendem und Koch dankt, dann mit einer viel besseren von Godehardt Schönherr: „Hallo liebe Gäste, ich hoffe, Ihnen geht es gut, von hier oben sieht es jedenfalls so aus. Ireen Sheer geht es nicht so gut – hören wir mal rein.“ Und dann legt Larissa, der dritte und ausgesprochen gut aussehende Teil von Hitmix los: „Und heut’ Abend hab’ ich Kopfweh, wenn du sagst: Komm doch her. Ich hab’ Migräne, weil ich mich sehne. Ich will geliebt sein. Ich will mehr.“ Die Schützenfrauen singen begeistert mit. Und alle tanzen, die Männer wirbeln ihre Frauen nur so übers Parkett! Traumhafte Vorstellung für jeden DJ, der mal versucht hat, in einem Berliner Kellerclub das Szenevolk zum Tanzen zu bringen.

Das werden die beiden Herren von Ex-Tiffanys natürlich auch gefragt: Ob der DJ für sie eine Konkurrenz sei. Der kundige Gregor winkt abermals ab. Die Veranstalter überlegten sich vorher immer ganz genau, ob sie Live-Musik oder einen DJ haben wollten – es gebe wenige DJ’s in ihrem Bereich: Hochzeiten, Schützenfeste, Polterabende. Und Godi fügt an: „Vor 15 Jahren gab es den DJ nicht. In den 90er Jahren gab es das Schützenfest vor dem Schützenball. Am Freitag holte man sich dann die Großraumdisko ins Zelt. Holte sich einen DJ und einen Radiomoderator, der NDR hat da ja einige von, ins Tausendmann-Zelt, und dann ist der Laden voll.“

Langsam ist auch hier der Laden voll und Hitmix gut in Fahrt. Natürlich haben sich Godehardt und Gregor umgezogen: Godehardt erscheint klassisch im Smoking und Gregor mit einer mintgrünen Satinjacke, auf der eingewebte Rosen blühen. Dazu eine Fliege, die aussieht, als habe man ein Stück Diskokugel zur Schleife gefaltet. Eine Diskokugel-Fliege! Larissa, die zielstrebig zu ihren Kollegen auf die Bühne gestiegen ist und ebenso resolut das Mikro ergriffen hat, trägt einen schwarzen Hosenanzug, eine leicht ausgestellte Hose, flache Schuhe. Wahrscheinlich hat sie keine Lust, dass ihr die Schützen zu später Stunde unter den Rock gucken, zuzutrauen wäre es ihnen. Aber Larissa ist cool. Very professional. Auf meine Frage, wie sie zum Mucken gekommen sei, sagt sie: „Ich bin Musikerin. Mein Mann auch. Wir sind eine Musikerfamilie, sozusagen. Kennen gelernt haben wir uns bei Top 40.“ Top 40? Die Top 40, erklärt Larissa, seien so etwas wie die Showbands, nur für Jüngere und im größeren Rahmen. Da würden, wie der Name sagt, nur brandaktuelle Titel gespielt.

Brandaktuell sind die Schlager und Songs, die Hitmix heute im Lauf des Abends bringen, nun nicht, aber die Mischung stimmt. Sogar AC/DC und die Rolling Stones sind vertreten. Es ist egal, ob der Song oder die Band einmal etwas bedeutete, sie womöglich sogar für eine Rebellion standen – gegen die kleinbürgerliche Welt, in der ihre Titel nun wieder angekommen sind. Hauptsache Stimmung. Ireen Sheer und Abba, Marianne Rosenberg und Udo Jürgens – aber auch Chubby Let’s Twist Again Checker und Desmond Dekker. Und zwischendurch immer wieder Marius Müller-Westernhagen, dessen Deutschrock-Klassiker („Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“) vor 20 Jahren ebensolche Stimmungsmacher waren wie heute. Hier hat sich wenig geändert seit 1985, als Heinzer auf seiner „Rotzkanne“ Blue Suede Shoes von Elvis in der gnadenlos eingedeutschten Version von Paul Kuhn spielte: „Sie sind erstens sehr teuer, zweitens ganz neu, und drittens trägt so was kein anderer Boy… blaue Wildlederschuhe, Baby…uhuh…“

Was unterscheidet das Feiern in der alten und in der neuen Bundesrepublik? Die Qualität ist besser geworden. Der Drumcomputer hält den Takt, und das Keyboard von Gregor gibt den Sound vor. Das „dilettantische Geklöter“ in Verbindung mit dem „ausgeschwitzten Ehrgeiz“ – eine toxische Mischung, wie man in „Fleisch ist mein Gemüse“ lesen kann – ist einer lockeren, fast ironischen Haltung gewichen: Ich mach halt hier meinen Job, von dem ich gut leben kann.

Geblieben ist das Selbstverständnis der Mucker, Dienstleister zu sein, den Abend stemmen zu müssen, „geil abzuliefern“. Der Mucker ist der erste Diener des Volkes, das in diesem Fall im Schützenkostüm auftritt. Godehardt Schönherr: „Es geht darum, dem Fest den Rahmen zu geben. Die eigenen Gefühle des Tages spielen keine Rolle. Wir sind wie ein Koch. Das Hochzeitsmenü soll halt das Hochzeitsmenü sein und nicht Pfannkuchen mit Zimt.“

Doch auch das Hochzeitsmenü ändert sich, ganz langsam. In Zeiten, in denen sogar 20-Jährige der Meinung sind, die Zukunft der Popmusik liege im Schlager, kann es passieren, dass sich die heute unüberbrückbar scheinende Distanz zwischen der Popkultur und dem Paralleluniversum Tanzmusik verringert. Bands wie „Blumfeld“ oder „Wir sind Helden“ haben mit ihren deutschen Texten und durchkomponierten Melodien dem Schattenreich Schlagermusik ein bisschen Licht gespendet. Und eines konnte man bei dieser Expedition sicherlich lernen: Ein Hit ist ein Hit, egal ob er von AC/DC, Ireen Sheer oder Desmond Decker stammt.

Nadja Geer

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