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Kultur: Die Energien des Epileptikers

KLASSIK

„Romantischer Geist“, behauptet mein Klavierführer, „spricht aus der Ersten Sonate, zu deren Komposition Hindemith durch Hölderlins Gedicht ‚Der Main‘ angeregt wurde.“ Denkste! Vehementen Widerspruch zu der These legte Olli Mustonen im Konzerthaus ein. Mit hartem Anschlag, der alle metallenen Obertöne des Steinway mobilisierte, fasste der finnische Pianist die Sonate an. Dass er den tönenden Koloss gleich zu Beginn auf das Podium des Kleinen Saals wuchtete, machte die Ohren frei für die folgenden betont antiromantischen Betrachtungen Busonischer Bach-Bearbeitungen und Prokofjews „Cinderella“-Suite. Was Hindemith betraf, mochte Mustonen der Sonate weder mit aufgebauschten thematischen Gegensätzen ein Drama entlocken, noch ihre Energie über barocke Fortspinnungsfäden gefällig weiterleiten oder ihre Flächen mit flirrendem Klang als Flusslandschaften poetisieren. Scheinbar nüchtern wie ein Kubist setzte er Formteil neben Formteil – und erzeugte eine völlig eigene Gesamtspannung: Das gelang, weil er die Konturen nicht nur mit Zielgenauigkeit, sondern auch abgründig, wie mit der jäh hervorbrechenden Energie eines Epileptikers zu zeichnen wusste. Bezwingend auch, wie Mustonen Momente kalter Wut in jene Fantasia nach Johann Sebastian Bach mischte, die das einstige Wunderkind Busoni auf den Tod des gestrengen Lehrers und Vaters schrieb: Plötzlich schien die unterkühlt exponierte Choralmelodie zu leuchten – nicht aus Innerlichkeit der Tongebung, sondern wie aus Glück über die Makellosigkeit des tönenden Kunstobjekts. Das aber endete wie ein Fragment: abgeschnitten mit parzenhafter Gleichgültigkeit, Tragik ohne Verklärung zurücklassend.

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