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Kultur: Die Entführung aus dem Detail

Seit 100 Tagen ist Michael Schindhelm Chef der Opernstiftung. Begegnung mit einem Generalisten

Es ist gar nicht so einfach, mit Michael Schindhelm über die Berliner Musiktheater ins Gespräch zu kommen. Kaum haben wir im nüchternen Büro des Opernstiftungsdirektors Platz genommen, geht es schon wieder um Europa. Erst kürzlich hatte Schindhelm einen Text veröffentlich, in dem von diesem „schwer zu bändigenden Haufen narzisstischer, zickiger Völker“ die Rede war, „die noch lange nicht bereit sind, in eine für alle unterschiedslose Wohngemeinschaft einzuziehen, mit einer Hand voll EU-Kommissären als Herbergsvätern“. Dass er in jenem Artikel in der „Welt“ auch noch die „Wiedergeburt einer nationalen Identität“ als Weg aus der europäischen Krise aufzeigte, dafür musste Schindhelm jede Menge verbaler Prügel einstecken.

Doch der Mann mit dem körperbetont geschnittenen T-Shirt und den hellen Augen nimmt die Medienschelte gelassen hin. „Seit 15 Jahren melde ich mich zu Fragen der Zeit zu Wort, und ich gedenke das auch weiterhin zu tun.“ Nach dem Mauerfall hat Schindhelm in der Tat in vielerlei Hinsicht von sich reden gemacht. Der promovierte Quantenchemiker kam als Quereinsteiger ans Theater, wurde Intendant in Nordhausen, dann in Gera, schließlich in Basel, musste sich wiederholt eingehenden Prüfungen wegen vermeintlicher Tätigkeit als Stasi-IM unterziehen, veröffentlichte zwei Romane, schrieb zwei Opernlibretti sowie diverse Aufsätze zu gesellschaftlichen Fragen und Phänomenen. „Ich bin jemand, der inhaltlich denkt. Darum nutze ich Plattformen dort, wo sie sinnvoll sind.“ Das Feuilleton allerdings habe Probleme mit Persönlichkeiten, die sich nicht eindeutig einordnen lassen. „In naturwissenschaftlichen Zeitschriften äußern Wissenschaftler ständig dezidiert politische Meinungen.“

Vielleicht lässt sich einer wie Schindhelm mit hiesigen Parametern wirklich schwer erfassen. In Frankreich, wo Politiker Belletristik verfassen und Philosophen bei aktuellen Debatten mitmischen, wäre er leichter integrierbar. Andererseits: Sein Ruf als Querdenker scheint dem 1960 Geborenen nicht gerade unangenehm zu sein. Dass er seit dem 1. April einen der hochrangigsten Jobs der bundesrepublikanischen Kulturlandschaft bekleidet, nämlich den des Direktors der Stiftung „Oper in Berlin“, dürfte ihn in seiner Überzeugung bestärken, dass jetzt die Achtundsiebziger am Zug sind.

Damit meint Schindhelm auch Menschen wie Angela Merkel, eine andere prominente Quereinsteigerin, mit der er in den Achtzigern in Adlershof zeitweise ein Labor teilte. Michel Houellebecq habe mit seinen „Elementarteilchen“ den passenden Begriff für jene gefunden, die um 1978 die Schulen verließ: „Wir sind in Ost wie West als Kinder eines Kalten Krieges aufgewachsen, den wir weder angezettelt noch beendet haben.“ Zwischen den Zeiten groß geworden, stehen die Achtundsiebziger für kein historisches Ereignis, findet Schindhelm: „Uns zeichnet aus, dass uns nichts auszeichnet.“

Mit einem Wechsel von Rot-Grün zu Schwarz-Gelb könnte sich auch in der Politik der Generationswechsel im Herbst vollziehen. Als „nicht parteigebundener“ Intellektueller will sich Schindhelm dabei nur verbal einmischen. Was die Literatur betrifft, forderte er dagegen vor zwei Wochen in der „Zeit“ zusammen mit Martin R. Dean, Thomas Hettche und Matthias Politycki sowohl die alten Meister wie auch die jungen Schnöselliteraten heraus: Durch einen „relevanten Realismus“, durch heißblütige Zeitgenossenschaft will sich das „adulte Mittelfeld“ der Schriftsteller seinen Weg an die gesellschaftliche Spitze bahnen.

Wann, mag sich mancher fragen, hat Michael Schindhelm eigentlich noch Zeit für seine beiden Ämter? Für den Intendantenposten in Basel, wo er in seiner letzten Spielzeit 25 Premieren herausbringen will, darunter einen „Don Giovanni“ in der Regie von Andreas Dresen, einen Thalheimer-„Rigoletto“, eine Musiktheaterversion von Schipenkos „Air Mongolia“ (Regie: Thomas Ostermeier) sowie die Uraufführung einer Oper des Komponisten Cong Su, zu dem Schindhelm das Libretto verfasst hat. In Berlin hätte der neue Opernstiftungsdirektor laut Vertrag seine ersten Monate mit halber Arbeitskraft bestreiten dürfen – dennoch, resümiert Schindhelm, habe er den Job „jetzt schon zu 100 Prozent gemacht“. In beiden Städten, fügt er hinzu, bekomme er auf eigenen Wunsch derzeit nicht den vollen Lohn.

Viel Sichtbares kann er nach den ersten 100 Tagen an der Spitze der hauptstädtischen Musiktheater-Holding nicht vorweisen. Zeit und Geduld hat es gekostet, die seit 1989 ge- und verwachsenen Machtverhältnisse innerhalb und zwischen den drei Häusern zu verstehen, sich einen Überblick über das Repertoire zu verschaffen, die Sorgen und Bedenken der Interessengruppen wie der lokalen Kulturpolitik anzuhören. Und es galt, intern bedeutende, aber wenig öffentlichkeitswirksame Personalentscheidungen zu treffen. Mittlerweile ist mit Stefan Rosinski ein Leiter für jene „Bühnenservice GmbH“ gefunden, die künftig alle Häuser zentral mit Dekorationen und Technik versorgen soll. Demnächst werden außerdem die Geschäftsführenden Direktoren der Komischen und der Deutschen Oper ausgewechselt.

Dass Schindhelm mit seinen vier Mitarbeitern Asyl im Verwaltungsgebäude der Komischen Oper gefunden hat, ist auch eine Folge der Fusion unter dem Stiftungsdach. Weil die Personalstellen der drei Opern jetzt in einem Gemeinschaftsbüro im Handelszentrum am Bahnhof Friedrichstraße sitzen, wurden Unter den Linden Zimmer frei. Dabei stand von Anfang an fest, dass Schindhelm sein Quartier im Osten der Stadt beziehen würde: Nach dem Dienstsitz der Stiftung berechnet sich die Vergütung der Mitarbeiter. Wäre er nach Schöneberg gezogen, müssten auch die Angestellten der Staats- und der Komischen Oper nach Tarif West bezahlt werden. Sinn und Zweck der Stiftung aber ist es ja gerade, Geld zu sparen: 16,8 Millionen bis 2009.

Da wird es zur Überlebensaufgabe für die Bühnen, nicht nur die Fixkosten zu senken, sondern die Einnahmen zu erhöhen: Bei 55,9 Prozent Auslastung an der Komischen Oper, 64,4 Prozent an der Deutschen Oper, 76,3 Prozent bei Staatsballett und 77,4 Prozent bei der Staatsoper im ersten Quartal 2005 sind noch Steigerungsmöglichkeiten drin. Gute Stimmung für die Opern zu machen, hat Schindhelm darum zur Chefsache erklärt. Getrennt marschieren, vereint schlagen!, soll es für die Häuser heißen. So wird es im September einen gemeinsamen Spielzeitauftakt geben, mit künstlerischen Kostproben, einer „Nacht der offenen Tür“ und einem Kinderprogramm. In der kommenden Saison ist es zudem gelungen, die alte Politiker-Forderung zu verwirklichen, dass – mit fünf Ausnahmen – tatsächlich an jedem Tag in mindestens einem Opernhaus der Vorhang hochgeht: 700 Mal insgesamt.

Wenn morgen der 100. Tag seiner Amtszeit anbricht, befindet sich Michael Schindhelm bereits im Urlaub, auf Safari in Afrika. Einen Monat lang will er die Serengeti durchstreifen. Die hat bekanntlich eines mit der Operntrias gemein: Beide dürfen nicht sterben.

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