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Kultur: Die Erfindung des Ich

Tschechows Birken hängen nur mehr als verkrüppelte Reste in einem schmutzig-dunklen Stollen herum. Aus diesem scheußlich-schönen Lebensraum muss man sich einfach in einen Lebenstraum zu retten versuchen.

Tschechows Birken hängen nur mehr als verkrüppelte Reste in einem schmutzig-dunklen Stollen herum. Aus diesem scheußlich-schönen Lebensraum muss man sich einfach in einen Lebenstraum zu retten versuchen. Sich einrichten, um zu über- und zu widerstehen. Und um bei der ersten Gelegenheit die neue "Freiheit, abzuhauen" zu nutzen. Weshalb der "Ego" genannte Held, der Ich-Erzähler aus Wladimir Kaminers "Militärmusik", den Rückblick auf seine Jugendzeit in der Altenburger Bühnenfassung mit dem Ausblick auf seinen Ausreiseversuch beginnen lässt.

Während Frank Prielipps Bühnenbild für Kaminers biografischen Schelmenroman den realen Unterbau liefert, möchte Regisseur Thomas Roth ihm einen poetischen Überbau geben. Dabei bleibt der Unterhaltungswert von Kaminers literarisch unambitionierter Um- und Verdichtung eines Lebens in fremdbestimmter Umwelt leider auf der Strecke. Was Thomas Brussig mit seiner "Sonnenallee" für die DDR vorgelegt hat, präsentiert der seit 1990 in Berlin lebende junge Moskauer Kaminer mit seinen Texten: erfundene Entwicklungsgeschichten aus dem real existierenden Sozialismus im Widerschein schöner Jugenderinnerungen.

Dem Gleichklang von "Militärmusik" ordnet sich Kaminer dabei nie unter: nicht etwa, weil er sich bewusst in Opposition begibt, sondern weil er ein spielerisches Bewusstsein der eigenen Wünsche entwickelt. Geboren, als der russische Astronaut Gagarin abstürzte, führt sein Held ein munter-schrilles Leben gegen alle graue Realität. Und so fliegt er überall raus: aus der Schule, aus dem Theaterjob, aus dem Komsomol - nur nicht aus der Armee. Der kleine Held Kaminer lebt in einer Nischengesellschaft mit Rock und Wodka und integriert zugleich die großen Ziele der sozial-autoritären Gesellschaft. Dabei bannt Kaminer Schrecken und Schäbigkeit des Realsozialismus stets durch Pointen, an deren hintergründigem Witz sich das Theater entzünden könnte.

Doch Regisseur Thomas Roth, der mit Kaminer nach dessen Übersiedlung Anfang der 90er Jahre am Berliner Orphtheater gearbeitet hat, lässt die Anekdoten stattdessen überdeutlich bebildern. Engel und Teufel verlangen als Kontrolleure bei der Ausreise einen Bericht vom alten Leben; und so beginnt ein Nachspiel der Erinnerungen, das meist nur epische Nacherzählung bleibt. Dabei übernehmen die für die Bühnenversion erfundenen himmlisch-höllischen Verführer auch alle anderen Rollen. Außerdem flattert ein im Roman so nicht vorhandenes junges Mädchen als kitschig poetisierendes Liebes- und Sehnsuchtsobjekt durch die Geschichte. Und der KGB-Mann als stete Bedrohung tritt in seinem Ledermantel so auf, wie man Geheimdienstler aus Filmen kennt.

Der Versuch, Kaminers nüchtern-schillernden Roman für die Bühne zu erschließen, ist leider weitgehend gescheitert. Auch, weil das Altenburger Ensemble mit blassem oder derb aufdrehendem Realismus den surrealen Gehalt von Kaminers Figuren verfehlt. Da ist es leider nur konsequent, dass der Darsteller des Helden steif und mit flachem Dauergrinsen im Zentrum der Inszenierung eine Leerstelle lässt. Übrigens: In Kürze will Roth am Jungen Theater in Göttingen auch Kaminers "Russendisko" auf die Bühne bringen.

Hartmut Krug

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