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Kultur: Die fabelhafte Welt des Herrn K.

Kino als Kakophonie aus Kritikerstimmen: Im Eingang des "Moviemento" kleben Dutzende von Papierzetteln mit Pressekommentaren zu aktuellen Produktionen. Sie sollen vorbeieilende Passanten neugierig auf die laufenden Filme machen und ihnen die Schwellenangst nehmen.

Kino als Kakophonie aus Kritikerstimmen: Im Eingang des "Moviemento" kleben Dutzende von Papierzetteln mit Pressekommentaren zu aktuellen Produktionen. Sie sollen vorbeieilende Passanten neugierig auf die laufenden Filme machen und ihnen die Schwellenangst nehmen. Denn die drei Vorführsäle im ersten Stock sind nur über ein düsteres Treppenhaus zu erreichen. Die Zitate aus zahlreichen deutschen Blättern stöbert Programmchef Klaus Kreiner eigenhändig im Internet auf und druckt sie aus. "Früher haben die Filmverleiher die Kernsätze der Rezensionen auf ihre Werbemittel gedruckt, doch diese Mühe machen sie sich nicht mehr", bedauert der 43-Jährige. "Es gibt hier zu Lande keine Filmkultur." Das Lamento über die Misere in der deutschen Filmwirtschaft ist fast so alt wie das Kreuzberger Kino selbst. Seit 1906 werden Filme in dem Eckhaus am Kottbusser Damm 22 aufgeführt. Damit ist das Moviemento, das zuvor "Vitascop", "Hohenstaufen-Lichtspiele" und "Tali" hieß, eines der ältesten Filmtheater in Deutschland, die noch in Betrieb sind. Der erste Besitzer war ein gewisser Alfred Topp. Möglicherweise leitet sich von seinem Namen der Begriff "Kintopp" ab, spekuliert Kreiner. Genaues weiß er nicht: Fünf Jahre vor dem 100. Geburtstag des Kinos bittet er alle Berliner um Hinweise auf seine Geschichte. Die liegt in dem gleichen Dunkel wie ein Zuschauerraum, bevor die Vorstellung beginnt.

Als die jetzige Betreiberin Ingrid Schwibbe das Haus 1984 übernahm, war es völlig heruntergewirtschaftet. Der Vorbesitzer hatte zwei Jahre lang das Kultmusical "Rocky Horror Picture Show" gezeigt, dessen Fangemeinde mit Wasser und Reiskörnern um sich warf, ohne die Säle reinigen zu lassen. Schwibbe änderte das Profil und brachte Autorenfilme auf die Leinwand, die ein anderes Publikum anzogen. Aus dem Kiezkino wurde ein Treffpunkt für Cineasten und Szenegrößen. Manche von ihnen wechselten die Seiten: Die Rocksänger Rio Reiser und Blixa Bargeld, der Filmemacher Rosa von Praunheim und der Kabarettist Ades Zabel haben alle einmal im Moviemento die Projektoren bedient oder Karten verkauft. Auch der Erfolgsregisseur Tom Tykwer plante hier zeitweise das Monatsprogramm. Er wurde von Schwibbe engagiert, als er sich über eine gerissene Filmrolle beschwerte. Seine Produktionsfirma "X-Filme" wäre ohne das Moviemento ebenfalls nie entstanden. Tykwer traf seine künftigen Kompagnons Dani Levy, Wolfgang Becker und Stefan Arndt, die alle Stammgäste waren oder sind, im verwinkelten Foyer. Dank des Moviementos lernte er zudem seinen Kameramann Frank Griebe kennen: Der war in die damalige Kassiererin verliebt.

Unzählige solcher Anekdoten hat der Programmchef parat. Klaus Kreiner ist vom Kino besessen: Schon im Vorschulalter trieb er sich vor den drei Filmtheatern seiner Heimatstadt Aurich herum, weil er Szenenfotos aus den Schaukästen ergattern wollte. Als 15-Jähriger riss er sich die Leinwand eines geschlossenen Kinos unter den Nagel und trug sie ins örtliche Jugendzentrum, um dort Filme zu zeigen. Mit Dauerbrennern wie den "Blues Brothers" verdiente er genug Geld, um Avantgarde-Filme etwa von Peter Greenaway drei zahlenden Zuschauern vorspielen zu können. Eine Mischkalkulation, auf deren Zugkraft Kreiner bis heute setzt: Kassenschlager wie "Die fabelhafte Welt der Amélie" sind im Moviemento ebenso zu sehen wie Erstlingswerke unbekannter Nachwuchsregisseure.

Die Berliner Kinolandschaft ist dem gebürtigen Ostfriesen seit mehr als zwei Jahrzehnten vertraut. Nach Lehrjahren in der "Filmbühne am Steinplatz" arbeitete er fünf Jahre lang als Geschäftsführer des "Babylon Mitte", bevor er bei zwei Verleihfirmen einstieg. Danach gründete er seinen eigenen, kurzlebigen Filmverleih "Atlantic". 1997 holte ihn Schwibbe wegen seiner Kompetenz und Kontakte ins Moviemento. Kreiner kann die Besetzungslisten vieler Filme auswendig herunterrattern und scheint jedem in der Branche begegnet zu sein. Ohne ein Netzwerk persönlicher Beziehungen lasse sich ein anspruchsvolles Programm nicht mehr zusammenstellen: "Ich muss die Verleiher alle kennen, sonst komme ich an die Filme, die ich will, nicht heran." Das Geschäft sei für kleine, unabhängige Häuser enorm schwierig geworden: "Programmkinos wie vor zehn Jahren, die ihren Namen verdienen, gibt es nicht mehr." Stundenlang kann er über die Fehlentwicklung des Wirtschaftszweigs räsonnieren: Über Verleihfirmen, die facettenreiche Filme wie flache Dutzendware bewerben; über TV-Redakteure, die bei ihren Sendern kein Geld für ambitionierte Vorhaben lockermachen; über verdeckte Subventionen, mit denen die Bezirke Multiplex-Kinozentren das Überleben ermöglichen. Am meisten ärgert Kreiner, wie kurz die Verwertungsfristen geworden sind. Blieben früher die Rechte an einem Film fünf bis sieben Jahre in einer Hand, muss sich eine Produktion heutzutage binnen sechs Monaten amortisiert haben. Nach einem Jahr werden alle Kopien eingestampft. Dann bleibt nur noch das Belegexemplar im Bundesfilmarchiv übrig, auf das allein kommunale Kinos Zugriff haben. Vor einer Dekade seien noch 21 000 Titel verfügbar gewesen, heute nur noch ein Bruchteil davon, schimpft Kreiner: "Ich kann keine richtige Filmreihe mehr zusammenzimmern."

Unverdrossen versucht er es dennoch und wird auf Festivals fündig. Filme, die bei großen Verleihern keine Chance haben, werden im Moviemento nicht etwa unkommentiert abgenudelt. Kreiner lädt regelmäßig zu Publikumsdiskussionen in Anwesenheit von Regisseuren und Darstellern, um Kinomacher und -gänger miteinander ins Gespräch zu bringen. Sein Ziel: "Dem deutschen Film eine Marke geben, damit die Leute beim Blick auf das Entstehungsland nicht mehr zusammenzucken." Ihm schweben idyllische Zustände wie in Frankreich vor. Dort zeigen die Fernsehsender an dem Wochentag, an dem neue Filme anlaufen, keine Spielfilme, und Ganztagsschulen schließen nachmittags, damit ihre Schützlinge ins Kino gehen können. Solche filmfreundlichen Verhältnisse wünscht sich Kreiner auch für Deutschland. Deswegen ist sein Haus, das für seinen herausragenden Spielplan mehrfach ausgezeichnet wurde, aktives Mitglied im Verband europäischer Programmkinos. Und angehende Profis dürfen kostenlos ihren Horizont erweitern: Wer an einer Filmhochschule als Student eingeschrieben ist, genießt im Moviemento freien Eintritt.

Oliver Heilwagen

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