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Kultur: Die Fantasie füllt die Löcher

Glatte Güsse, raue Oberflächen: Skulpturen von Henry Moore im Berliner Haus am Waldsee

In Marcel van Eedens ungeheuer suggestiver Zeichnungsserie „K. M. Wiegand“ sieht man Ausstellungen im Berliner Haus am Waldsee. Gefühlte frühe fünfziger Jahre, im Raum stehen amorphe Skulpturen, an der Wand expressive Zeichnungen. Abstraktion ist das Gebot der Stunde, die Ausstellungsbesucher tragen schwere dunkle Brillen, die Damen Kostüme und Hochsteckfrisur.

Die Zeichnungen des belgischen, seit einem Jahr in Berlin lebenden Künstlers sind Fiktionen, zusammengesetzt aus damaligen Zeitungsfotos. Aber so könnte es tatsächlich zugegangen sein, 1951, als der britische Bildhauer Henry Moore seine erste Berliner Ausstellung im Haus am Waldsee hatte. Abstraktion war, in der frühen Nachkriegszeit, das Gebot der Stunde – und Henry Moores amorphe Skulpturen passten perfekt zum Zeitgeist: Bei der 24. Biennale von Venedig 1948 hatte Moore den Internationalen Bildhauerpreis erhalten, 1953 folgte der Preis der 2. Biennale von Sao Paulo. Kein Wunder, dass bald alle Städte der Welt eine Moore-Skulptur haben wollten. In Berlin stehen sie vor der Akademie der Künste am Hanseatenweg, vor dem Haus der Kulturen der Welt im Tiergarten sowie vor Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie – nicht umsonst alles Ikonen der Architektur der Nachkriegszeit.

Nun ist Henry Moore wieder in Berlin, wieder am alten Ort. Das Haus am Waldsee zeigt die von der Henry Moore Foundation übernommene und eingerichtete Ausstellung „Henry Moore und die Landschaft“. Ein passendes Sommerthema, und tatsächlich stehen die beiden großen Skulpturen „Reclining Figure: Hand“ und „Two Piece Reclining Figure Nr. 2“ wie hingegossen im Garten der Zehlendorfer Villa. Das malerische Grundstück mit Seezugang mag ein Anlass für die Ausstellung gewesen sein, Moores lebenslange Arbeitsbeziehung zur Berliner Bronzegießerei Noack ein anderer. Vor allem aber ist es der Versuch, sich zumindest alle zwei Jahre mit einer Ausstellung zur klassischen Moderne der eigenen Wurzeln zu vergewissern – gerade weil das kleine, privat betriebene Haus seit der Leitungsübernahme durch Katja Blomberg ansonsten konsequent auf Gegenwartskunst made in Berlin setzt.

Wie punktgenau das Thema im Documenta-Sommer gewählt ist, war nicht vorhersehbar. Nicht nur, dass von der Frankfurter Fine Art Fair bis zu den Skulpturprojekten in Münster 2007 alles im Zeichen der Plastik zu stehen scheint. Auch der konzentrierte Rückzug auf die Kunstbetrachtung, die das Haus am Waldsee mit gewagt, aber gelungen zartlila eingefärbten Wänden befördert, findet sich ähnlich auch bei Roger M. Buergels Einrichtung von Fridericianum und Neuer Galerie in Kassel. Und wenn dort die Aktualität der künstlerischen Positionen der sechziger Jahre untersucht wird, so ist auch die Frage, ob der einst so gefeierte und heute etwas in Vergessenheit geratene Henry Moore noch immer aktuell ist, durchaus angebracht.

Die Themen – liegende Figur – wie auch die handschmeichlerisch verführerische Oberflächenbehandlung können es nicht sein. Die Kuratorinnen Katja Blomberg und Anita Feldman Bennet von der Moore Foundation setzen dagegen auf den Verwandlungsprozess, den sie vom Objekt über den Entwurf und Gips bis zum großen Guss belegen. Die Technik bleibt sich gleich: Fundstücke wie Knochen, Holzstücke, Steine ergänzt Moore mit Gips zur vollen Form und lässt die Spuren stehen. Zerklüftet wie Felsen erscheinen die Holzmaserungen noch in der fertigen Skulptur, rau wie Wüstensand wirkt die Oberfläche eines Elefantenschädels, die Moore fotografiert und in Radierungen verwandelt. Extreme Nahansicht lässt aus Kleinskulpturen riesige Felslandschaften werden, und aus Stonehenge-Blöcken wieder Skulpturen.

Gerade im Spätwerk, auf das sich die Ausstellung konzentriert, rücken die einzelnen Teile der Skulpturen auseinander, bilden sich Löcher, Durchblicke, Zwischenräume. Die Fantasie sieht mit, füllt die Lücken, vervollständigt die Form, so dass der englische Titel „Imaginary Landscapes“ viel treffender ist als der deutsche „Henry Moore und die Landschaft“. Denn um reale Landschaft und die Frage, wie sich die Skulptur zu ihr verhält, geht es nur im Garten – und in den Fotografien aus Moores Domizil in Perry Green, welche die Wände schmücken. Dort, in Herfordshire, stehen Moores Skulpturen in weiten, parkähnlichen Wiesen, umspielt von grasenden Schafen. Eine Schafherde hätte sich auch das Haus am Waldsee für die Dauer der Ausstellung gern in den Garten geladen – stünden dort nicht Eiben und Rhododendren, die für Schafe giftig sind. So bleiben Moores Skulpturen in Berlin ohne Schafe. Man muss sie sich eben hinzudenken.

Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, bis 21. Oktober, täglich 11 bis 18 Uhr. Katalog (DuMont Verlag) 29,90 €

Christina Tilmann

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