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Die Fotografin als Schriftstellerin: Mein Freund, das Fahrrad

Zwischen Fatalismus und Lebenshunger: Ré Soupault und ihr Reisetagebuch aus dem Jahr 1951.

Nun ja, zum Auftakt hätte das Wetter in Basel besser sein können, wie Ré Soupault eingangs ihres Reisetagebuchs festhält, doch immerhin bleibt der Regen aus. So schwingt sie sich am 8. September 1951 auf ihr Vélosolex und wird mit diesem hilfsmotorbetriebenen Fahrrad in fünf Wochen hunderte Kilometer durch Süddeutschland zurücklegen – von der Mosel über Stuttgart nach München durch zig possierliche Kleinstädtchen. Sie besucht Bekannte, lotet neue Berufsperspektiven aus und studiert die Nachkriegsdeutschen, ihre einstmaligen Landsleute.

1901 als Meta Erna Niemeyer in Pommern geboren, hatte Soupault ihre Heimat nach einem Studium am Weimarer Bauhaus 1928 verlassen und war nach Paris übersiedelt, wo sie zunächst als Journalistin und Modedesignerin Fuß fasste. Mit ihrem Ehemann, dem bekannten Surrealisten Philippe Soupault, ging sie noch vor Kriegsausbruch zunächst nach Nordafrika, floh vor den heranmarschierenden Nazis Richtung Amerika und kehrte 1948 – nun ohne Philippe – nach Europa zurück.

Fast mittellos baute sie sich in der Schweiz ein neues Leben als literarische Übersetzerin auf und wurde über die Jahre zur wichtigen Vermittlerin im Zuge der deutsch-französischen Wiederannäherung. Erst als Ré Soupault 1996 in Versailles starb, wurde allmählich ihr bedeutendes fotografisches Oeuvre entdeckt. Bereits 1950 hatte sie den Norden Deutschlands besucht und war vom allgegenwärtigen Elend in den Flüchtlingslagern erschüttert.

Armut in der Pfalz

Ein Jahr später schaut die Welt in der jungen Bundesrepublik noch immer wenig rosig aus, wie Soupault nach einem Gespräch mit zwei Pfälzer Beamten konstatieren muss: „Gott, sind die Menschen hier arm.“ Der Titel „Überall Verwüstung. Abends Kino“, den der Herausgeber Manfred Metzner für die Reiseaufzeichnungen wählte, bannt einen Zeitgeist, der pausenlos zwischen Fatalismus und Lebenshunger mäandert, treffend.

[Ré Soupault: Überall Verwüstung. Abends Kino. Reisetagebuch 1951. Hrsg. von Manfred Metzner. Verlag das Wunderhorn, Heidelberg 2022. 123 Seiten, 22 €.]

Auf ihren Zweiradfahrten trotzt Soupault selbst mieser Witterung und ihrem reparaturbedürftigen Gefährt. Mal gibt sie sich als Französin aus, dann wieder spricht sie Deutsch mit den Menschen, deren Wege sie kreuzt. Diese Wandlungsfähigkeit entgrenzt die Perspektiven. Ré Soupault bekommt den anhaltenden Hass auf die französischen Besatzer ebenso in den Blick wie die Überheblichkeit dieser den Besiegten gegenüber.

Sie bringt einiges an Verständnis für die in ihren Nöten gefangenen Deutschen auf, ohne dass sie deren chauvinistische Provinzialität, der sie selbst sich merklich entfremdet fühlt, als Rechtfertigungsgrund für irgendetwas akzeptiert. Ré Soupaults reflektiertes Urteilsvermögen ist zweifellos ihre Kardinaltugend. Über die zeithistorischen Beobachtungen hinaus gewährt sie Einblicke in die Selbstfindung einer erstaunlichen Persönlichkeit.

Obgleich selbst nicht vom Glück verfolgt, erfreut sie sich an einem Leben, das sie als Abfolge von Experimenten mit offenem Ausgang begreift. Auf welch mitreißende Weise Soupault sich an nützlichen Kleinigkeiten wie der Anbringung eines Rückspiegels entzückt, lässt jede neumoderne Achtsamkeitslehre zur Phrase verkommen.

Zum Beispiel notiert sie feierlich: „Die große Entdeckung dieser Tage ist die Zigarre.“ Auch intellektuelle Reflexionen kommen nicht zu kurz, sei es als Meditation über das Übersetzen von Literatur oder als einleuchtende Befund, „man müsste der Entwicklungsgeschichte des Bades einmal nachgehen“.

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Noch weitaus großformatigere Fragen stellen jene Radio-Essays, die nun in Auswahl unter dem programmatisch zu verstehenden Titel „Geistige Brücken“ ebenfalls im Heidelberger Wunderhorn Verlag, der sich um das Werk beider Soupaults so verdient gemacht hat, vorliegen.

[Ré Soupault: Geistige Brücken. Radio-Essays. Hrsg. von Manfred Metzner. Verlag das Wunderhorn, Heidelberg 2022. 280 Seiten, 24 €.]

Für die verschiedensten deutschen Rundfunkanstalten verfasste Ré Soupault zwischen 1951 und 1986 längere Beiträge wie „Die Welt der Kelten“, „Paris unter der Kommune“ oder „Die Rolle der Frau in der europäischen Kultur von der Antike bis heute“. Allesamt gewähren sie fundierte Einblicke in historische Zusammenhänge, die beneidenswert locker und bar jeder Effekthascherei daherkommen.

Daneben stehen gestochen scharfe Portraits der von ihr eigens ins Deutsche übertragenen Lautréamont und Romain Rolland oder von Antoine de Saint-Exupéry. Zum Radio kam sie als Quereinsteigerin, wie ihr Reisetagebuch dokumentiert: Stücke, die auch heute noch unbedingt lesenswert sind.

Maximilian Mengeringhaus

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